Letzte Ölung

Blondes Gegengift in menschenverachtender Zeit: Die amerikanische Songwriterin Jewel trägt das Gewicht des Universums auf schmalen Schultern  ■ Von Jörg Feyer

„Nur keine Panik, wenn ich mal die Augen zumache!“ Die blonde Frau mit den kleinen Augen und der wuchtigen Nase, die sich auf das Sofa zu meiner Rechten gelegt hat, lacht. Dabei sollte sie nur mein Mikro halten, das sich jetzt auf ihrem Brustkorb direkt vor ihrem Mund im Takt des Atems hebt und senkt.

Der koketten Geste zum Trotz, wahrt Jewel Kilcher im Gespräch die Distanz, die ein unpersönliches Fließbandinterview an einem Promo-Tag wie diesem nahelegt. Nein, hier liegt keine Tori Amos auf der Couch, die wildfremden Medienpartnern schon mal gern ans Knie tatscht, um ihren Ausführungen einen gewissen Nachdruck zu verleihen.

Doch die Erkenntnisse der 24jährigen Songschreiberin, die mit ihrem Debütalbum „Pieces Of You“, dieser „kleinen Folkplatte“ (Jewel), als sanftes Gegengift zum keifenden Racheengel Alanis Morissette den zweiten, weiblichen Shooting Star der Pop-Saison 1995/96 gab, sind auch schlichter gestrickt als Amos' hermetische Verstrickungen.

Zum Beispiel? Am Ende zähle doch nur Liebenswürdigkeit, singt Jewel auf ihrem zweiten Album „Spirit“ in der Single „Hands“, die dem Werk auch optisch ein Leitmotiv ist, als stehe die letzte Ölung unmittelbar bevor. Sind so kleine Hände, aber „sie gehören mir, nicht euch“. Und können sie nicht vielleicht doch Großes in Gang setzen und der „Unterschied sein, der den Unterschied macht“ (so die Booklet-Losung)?

Mit der Machtfrage kann man ihr nicht beikommen. Auch eine kleine Genderdebatte läuft ins Leere. Im Song „Do You“, der sogar mal ironische Untertöne anschlägt, kriegen beide Geschlechter ihr Fett weg. Natürlich sei die Welt so, wie sie ist, aber das heiße ja nicht, daß sie „so sein sollte“. Am Ende, so schwant ihr schon fast so lange, wie sie darüber nachdenken kann, zählen nämlich auch ganz andere Dinge. Die Menschen zum Beispiel, „die du betrogen hast“. Oder die Träume, „die du verraten hast“.

Und wenn's soweit ist, möchte sie, Jewel, eben „nicht dumm dastehen“ beziehungsweise dumm rumliegen auf dem Sterbebett und feststellen müssen, daß „ich mein Leben leichtfertig verschleudert habe“ mit frivolem Nichtsnutz. Wenn sich ihr Freund Edward umbringe, sei das einfach „bedeutsamer als mein neuer Minirock“. [Na, darauf muß frau erst mal kommen! d.sin]

Den unglücklichen Edward, dem sie jetzt posthum die Außenseiterhymne „Fat Boy“ hinterherschickt, lernte sie noch in Homer/ Alaska kennen, wo sie isoliert von den Einflüsterungen der modernen Welt (aber auch ohne fließend Wasser) als echtes Naturkind heranwuchs und in endloser Weite schon früh das Gewicht des Universums auf schmalen Schultern spürte. Es sei ja manchmal schon der Eindruck entstanden, sie sei „von Wölfen in einem Iglo“ großgezogen und „„„„„„in einem Camping-bus gekreuzigt“ worden, spottet Jewel heute über die Stereotype, die die US-Presse aus ihrer Biographie sog, die auch noch geschiedene Eltern und ein karges Dasein als Straßenmusikerin in San Diego hergibt.

Weniger lustig findet Jewel, daß sie die Medien immer noch als schöne Naive darstellen. Dabei sei es doch ihre „bewußte Entscheidung“ gewesen, vom Zynismus abzulassen, den sie sehr wohl auch kannte, und sich einem „aufgeklärten Optimismus“ zuzuwenden. Wer die pastorale, salbungsvolle Mutmacherrhetorik auf „Spirit“ gehört hat, das dem Titel zum Trotz musikalisch bodenständig- traditionell daherkommt, ist nicht mehr verwundert, wenn sie in diesem Zusammenhang ganz unbescheiden den Namen Martin Luther King ins Spiel bringt. Der habe auch gewußt, „welche Vorurteile, welcher Haß“ ihm entgegenschlagen würden. Und sich doch immer wieder „auf die Frage konzentriert: Wo ist Veränderung möglich? Und wie kann ich die Leute dahin bringen?“

Jewel hat der US-Erfolg inzwischen nach Hollywood gebracht, nicht nur zu Sean Penn, der um sie warb (jenseits der Leinwand), sondern auch auf manche Casting-Liste mit Pop-Synergie-Mehrwert. Demnächst debütiert sie im Bürgerkriegsdrama „Ride With The Devil“ als junge Witwe, deren „natürliche Reinheit“ auch Regisseur Ang Lee („Der Eissturm“) begeisterte.

Die Leute, die ihr zuhören, will sie an einen Ort bringen, wo vor allem Trost in der Luft liegt. Und der regnet dann auch herab in dicken Tropfen, die an unser Fenster klopfen.

Natürlich schüttet es dabei Platitüden und Gemeinplätze, die man eigentlich gar nicht mehr hören möchte und schon Songtitel wie „What's Simple Is True“ und „Innocence Maintained“ verraten. Irgendwann läßt Jewel, die Eisprinzessin eines neuen und doch ganz altbackenen Verantwortungsethos, sogar eine „new army“ aufmarschieren, „armed with faith“. Und außerdem: Wir sind doch alle o.k.! Irgendwie.

Doch so manche Phrase schluckt man, weil Jewel Kilcher wirklich singen kann. Sie wissen schon, der Telefonbucheffekt. Rauh, reif-verlebt, wissend, sexy gleitet sie durch „Down So Long“ und „Life Uncommon“, dann wieder läßt sie ihr kräftiges Vibrato einfach stehen und schwingen, als wolle sie mit den Engeln singen, die ihr gelegentlich in ihren Songs erscheinen. Und woher hat sie die Stimme? Natürlich von Mama Nedra, die ihre Tochter managt, im Namen derselben die Gelder ihrer Wohltätigkeitsorganisation HGH (Higher Ground For Humanity) an Individuen und Organisierte auf gleicher (spiritueller) Wellenlänge verteilt und zur Belohnung dafür im A-capella- Bonus-Track „Little Bird“ auch mal mit ran darf.

Irgendwann, sagt Jewel, würde sie gern mal eine richtige Country- platte machen. Old Country, versteht sich. Die Songs liegen schon zu Hause rum. Wir warten drauf. Aber bitte mit Jodeln! Das hat sie auch gelernt, damals in Alaska.

Jewel: „Spirit“ (Warner)