Wir Möglichkeitsmenschen

Sie sind die Helden der globalisierten Arbeitswelt, Matadore des Durchhaltens und Könige des Scheiterns – die Praktikanten. Sie studieren oder arbeiten ganz nebenbei, denn ihre Mission liegt in der unbezahlten Selbsterschaffung, der energischen Lebensvorbereitung: in den Steppen Sibiriens, den Kliniken Sowetos und natürlich den besten Redaktionen der ganzen Welt. Heldenskizzen  ■ von Volker Weidermann

Die Redaktionsleitung der taz ist besetzt. Etwa zwanzig Teilnehmer einer Arbeitslosendemo haben sich von dem Protestzug abgespalten und sind in den vierten Stock des Berliner Rudi- Dutschke-Hauses gestürmt, um hier und ultimativ eine Verbesserung der Erwerbslosenberichterstattung einzufordern.

Und während die Protestierenden noch auf den sich tapfer verteidigenden Chefredakteur Michael Rediske einreden, schlendert einer, wie zufällig, ins Nebenzimmer und fragt beim Chefassistenten nach: „Ähm, wie sieht denn das bei euch mit Praktika aus?“ – „Nicht so schlecht“, erfährt er knapp, und schon ist er auf dem Weg, um seine Bewerbungsunterlagen zu holen. Die anderen diskutieren noch.

Praktikum – ein Zauberwort, das Zauberwort hoffnungsvoller Vorberufseinsteiger. Wem sich eine Möglichkeit zum Berufstraining bietet, der greift zu und hofft, sich danach nicht mehr um das gesellschaftliche Problem Arbeitslosigkeit kümmern zu müssen. Denn ein Praktikum ist inzwischen für beinahe jeden akademischen Beruf absolute Einstellungsvoraussetzung. Arbeitgeber nutzen immer hemmungsloser die Möglichkeit, hochmotivierte und zumeist unbezahlte Arbeitskräfte für sich testarbeiten zu lassen.

Und zwar völlig unverbindlich nebst totaler Rückgabegarantie an den Arbeitsmarkt. Ähnlich wie das Gesundheitswesen ohne Zivildienstleistende, würden ganze Arbeitsfelder in der privaten Wirtschaft zusammenbrechen, gäbe es von einem Tag auf den anderen keine Praktikanten mehr: Zeitungen, Architekturbüros, Krankenhäuser – endlos die Liste der von den jungen Gratisarbeitskräften abhängigen Institutionen.

Der Zwang zum Praktikum kann extrem belastend wirken. Wer schon an dieser ersten Hürde der Arbeitswelt scheitert, dem droht in einer sich immer noch vor allem über die Arbeit definierenden Lebenswelt nichts als Frust. Verzweiflung, Leere und das Gefühl, überall gegen Wände zu laufen, ist die Folge, wenn man zum ersten Mal erfährt, daß man nicht mal für umsonst irgendwo gebraucht wird. Warum soll sich auch nicht Hoffnungslosigkeit einstellen, wenn es selbst hier schon, auf dem Gratisarbeitsmarkt, nur Absagen hagelt?

Der Arbeitssucher, der nach einer solchen Frustration schließlich doch noch einen Praktikumsplatz erstritten hat, ist besessen von der Notwendigkeit, daß dieses eine Praktikum ihm nun zum Durchbruch verhelfen muß – und fällt vor lauter Bewährungsdruck auch hier auf die Nase. Wir wollen diesen Typen den Notwendigkeits- oder Panikpraktikanten nennen.

Beispielsweise der 34jährige Rolf Sauer. Der sitzt am Ende seines Arbeitstages in seiner dunklen, billigen Pension und heult. Er hat nach Abschluß seiner glänzend bewerteteten Promotion über Robert Musil die letzten Jahre als Nachtwächter gearbeitet. Jetzt hat er endlich die Chance bekommen, in einer der führenden Feuilletonredaktionen des Landes ein Praktikum zu machen. Und scheitert. Er hält dem Druck nicht stand. Vor allem dem eigenen Erwartungsdruck. Er hat das Gefühl, sich in einem dreimonatigen Bewerbungsgespräch zu befinden.

„Neugierig und diskret“ soll ein Praktikant sein, empfahl die Wirtschaftswoche in einem kürzlich erschienenen Beratungsheft. Doch unser Mann hetzt den ganzen Tag die Redaktionsgänge auf und ab, geht von Büro zu Büro auf der Suche nach Aufträgen. Und wird nur abgeblockt. Er geht den Leuten auf die Nerven. Die Redakteure merken, wie sehr er auf sie angewiesen ist. Das macht ihn unattraktiv. Lästig. Man macht Witze über ihn. Er ist schon raus, bevor er überhaupt richtig im Geschäft war. Er ist eine gescheiterte Figur.

Scheitern – diese Möglichkeit muß mitgedacht werden, wenn man sich in die Vorarbeitswelt der neunziger Jahre begibt. Anders als es die beiden unsäglich optimistischen Hobbysoziologen Johannes Goebel und Christoph Clermont in ihrem vor gut einem Jahr erschienenen Büchlein „Die Tugend der Orientierungslosigkeit“ wahrhaben wollen, ist die Lebensleichtigkeit des von ihnen erdachten „Lebensästheten“ auf dem Arbeitsmarkt von heute eher die Ausnahme als die Regel.

Ihre Lebensspaßtheorie des „Heute Boß, morgen Kellner, macht doch nix“ ist ein Yuppietraumkonstrukt, das nicht weit über die Stammtischparole „Wer Arbeit will, der findet auch welche“ hinausreicht. Die Wirklichkeit ist anders. Das Debakel gehört als Möglichkeit dazu.

Neben dem Panikpraktikanten muß man auch den Karriere- oder Berechnungspraktikanten bedenken. Er bevölkert in großer Zahl die Anwaltspraxen, Parlamente, Industrie- und Handelskammern, UNO-Organisationen und Botschaften der ganzen Welt. Er arbeitet beharrlich und nach einem genauen Plan an seiner Karriere. Auslandspraktika sind, will man es weit nach oben bringen, ein Muß in jeder Laufbahnlebensplanung. „Für mich steht außer Zweifel, daß die internationale Ausrichtung und internationale Kompetenz unseres Nachwuchses ein Schlüsselthema bei der Gewinnung und Entwicklung von Nachwuchskräften aus den Universitäten ist“, sagt Lufthansa- Vorstand Heiko Lange. Praktika außerhalb Deutschlands sind eine zwingende Voraussetzung für alle, die eine schöne Stelle in seinem Konzern anstreben.

Bei Medizinern ist dieser Hospitantentourismus fast zur Besessenheit geworden. Denen gilt es inzwischen als exotisch, sich mit einem Lebenslauf ohne Auslandsaufenthalt um einen Job zu bewerben. Südafrikas Gesundheitswesen basiert schon zu einem Gutteil auf der Gratisarbeit deutscher Medizinstudenten, die in ihrem Praktischen Jahr gerne mal selbständig Schußwunden operieren wollen.

Zu Hunderten fallen die Deutschen alle vier Monate in Soweto und Umgebung ein. Die Tatsache, daß ein einfaches Hochschulstudium mittlerweile nicht mehr genügt, um sich für einen Beruf zu qualifizieren, daß man also seinen Lebenslauf durch beeindruckende Erfahrungen im Ausland schmücken muß, hat inzwischen zu einer neuen Uniformität des modernen Karrierelebenslaufs geführt. Mal sehen, was man sich als nächstes einfallen lassen muß.

Vielleicht Sachen, wie sie sich die Biographienbauer und Lebenstester immer schon ausgedacht haben. Sie sind so etwas wie die Helden der modernen Praktikantenarbeitswelt. Sie sind die wahren Möglichkeitsmenschen, wie Robert Musil sie in seinem Romanfragment „Mann ohne Eigenschaften“ vorgestellt hat. „Solche Möglichkeitsmenschen“, liest man da, „leben, wie man sagt, in einem feineren Gespinst, in einem Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven.“

In Konjunktiven? Ja. Das Leben liegt als Möglichkeitskette vor ihnen, und sie probieren Lebensmöglichkeiten aus, ob sich diese vielleicht zu einer Wirklichkeit verfestigen möchten. Kleine Probeleben, von denen man wissen will, ob sie nicht doch zu eng sind. Oder zu klein. Denn das bringt den Möglichkeitsmenschen um.

Da ist zum Beispiel an den Kafka-Forscher Paul zu denken. Der machte sich im vorigen Herbst auf, um als Praktikant eines Filmproduzenten im ehemaligen Königreich Tuwa, in Südsibirien, das Grab Dschinghis Khans zu finden. Das Zweierteam, das sich einem reichen, besessenen Amerikaner angeschlossen hatte, war das erste Filmteam in dem kleinen Land. Neun Wochen lang gruben sie die Steppe sorgfältig um – und fanden doch nur skythische Mumiengräber im tiefgefrorenen Erdreich. Immerhin.

Der Praktikant mußte sich wochenlang mit der Aufgabe beschäftigen, die Kamera-Akkus an die Lichtmaschinen russischer Armeefahrzeuge anzuschließen, um in der völligen Steppeneinsamkeit die Stromversorgung aufrechtzuerhalten. Oder er verkleidete sich zum Zwecke authentischer Filmaufnahmen als antiker Sargträger, der Mumien in die tiefen Frostgräber zu versenken hatte. Oder er war tagelang auf Krötensuche, damit man diese für einen höheren Gruseleffekt auf die Mumien setzen konnte.

Einmal waren die Grabsucher in die Jurte einer tuwanischen Großfamilie zum Essen eingeladen. Es gab halbgare, ungewaschene Ziegendärme. Klar war: Ein Zurückweisen der stinkenden Speisen würde die Steppenfamilie tödlich beleidigen. Der Meister – so ließ sich der Filmproduzent von seinem Praktikanten nennen –, die Gefahr erkennend, wehrte ab: Er bedauere, aus religiösen Gründen auf den Darmgenuß verzichten zu müssen. Doch sein Praktikant, der liebe dies. Und so blieb Paul nichts anderes übrig, als die Speise hinunterzuwürgen. Der Meister aß derweil Schokoriegel.

Es ist nicht leicht, Praktikant zu sein. Auch als Möglichkeitsmensch nicht, der einfach so mal eine Lebensart durchprobiert, ohne konkret auf eine spätere Berufswirklichkeit zu spekulieren. Der nichts weiter wünscht, als sich eine schöne, abenteuerliche, erlebnisreiche, lustige Biographie zusammenzustellen. Das Schicksal des Praktikanten ist quasi per Definition ein knechtisches. Er ist und bleibt das kleine Würstchen auf der untersten Stufe der Hierarchietreppe.

Doch das Praktikantendasein ist auch so etwas wie eine geistige Lebensform. Es ist die Lebensform des Twentysomethings, der quasi nebenbei studiert, was ihm Spaß macht und was ihn interessiert, der aber gleichzeitig weiß, daß all das als Berufsqualifikation auf keinen Fall ausreicht.

Das war früher einmal anders. Da studierte man Jura, Medizin oder Germanistik, und das qualifizierte einen dann für eine kleine, aber gewisse Zahl an Berufsfeldern. Ohne großes Praktikumstamtam. Das gab wohl ein Gefühl von Sicherheit, hatte aber natürlich auch den Nachteil, daß man schon gleich nach der Schulzeit seine Lebensberufsentscheidung treffen mußte. Aber wer weiß schon mit fünfzehn bis zwanzig, womit er im Leben sein Geld verdienen will? Da sind die Arbeitstestphasen – im Zweifel bis ins hohe Alter –, die man als Praktikant heute bewältigen muß, ja auch eine Chance.

Und das gilt nicht nur für Akademiker. Auch im unstudentischen Milieu gehören das Praktikum und die Möglichkeit des radikalen Berufswechsels zum Alltag und werden von manchem auch gerne genutzt. Und natürlich kann man das mit einigem Recht, wie Goebel und Clermont es tun, als Chance und Tugend der Orientierungslosigkeit begreifen. Aber eine von vielen als Bedrohung empfundene Unsicherheit ist es eben auch.

Vor allem der Wirklichkeitsmensch hat es da schwer. Das wäre der Panikpraktikant, der krampfhaft sicher ist, daß dieses eine Praktikum nur zu jener einen anderen Berufswirklichkeit führen kann und muß.

Leichter hat es in dieser Hinsicht der Möglichkeitsmensch. Der nimmt all die kleinen Probeberufsleben gerne als Karriereschritt oder Biographiebaustein an und praktiziert und versucht und arbeitet sich aus tausend Möglichkeiten eine neue Wirklichkeit zusammen. Er erweckt Möglichkeiten, schreibt Robert Musil. Und was wäre das anderes, als daß sie Wirklichkeit werden?

Volker Weidermann, 29, seit drei Wochen Vertretungsredakteur im taz.mag, wirkte zuvor als Praktikant bei der Rhein-Neckar-Zeitung, bei The Independent, bei der FAZ und der taz. Der Germanist lebt in Berlin