Ein Argument gegen die Frühpensionierung

■ Der marxistische Erkenntnistheoretiker Alfred Sohn-Rethel wäre am 4.1.1999 hundert Jahre alt geworden. Radio Bremen hat seine Stimme in zwei CDs eingebrannt

Im allerersten, jagdgrünen Vorlesungsverzeichnis der Bremer Uni von 1973/74 ist ein Kurs „Kapital 1“ für „Sozialwissenschaftler im engeren Sinn“ angekündigt. Abgehalten wurde er vom Gast-Prof Alfred Sohn-Rethel. „Die Thematik ist vorgegeben durch die Auffassung von Marx und Engels, daß im Schoße des Kapitals die materiellen Vorbedingungen des Sozialismus heranreifen.“ So orthodox dies auch klingen mag, Sohn-Rethel verscherzte sich die Sympathie gar mancher Verfechter der jungfräulich-reinen marxistischen Lehre durch seine Kritik am Objektivitäts-anspruch der Naturwissenschaften. Echte Marxisten bekreuzigten sich damals vor den Naturwissenschaften.

Trotz Sohn-Rethels zarten Korrekturen an Marx: Oskar Negt rühmte ihn während des Ansteckens eines bordeauxroten Stof(f)fetzens namens „Ehrendoktorwürde“ am 9.2.88 gerade für seine mangelhafte Begabung zum Wendehals: „Er ist einer von diesen langsam und schwerfällig Lernenden, übrigens ohne sich dessen zu schämen, sondern es freimütig zu bekennen und damit den Blick frei zu bekommen für das wirklich Neue, das im Alten heranwächst.“ Langsam und schwerfällig: Immerhin soll Sohn-Rethel sein einziges, großes Werk „Geistige und körperliche Arbeit“ achtmal überarbeitet haben. Ein Lebenswerk, das ihn über Jahrzehnte begleitete. Und noch 1988 konnte an der Bremer Uni vom „Neuen, das im Alten (Marxismus) heranwächst“ geredet werden.

Auf einen Nachruf in der taz auf Sohn-Rethels Tod am 6.4.1990 hagelte es kontroverse Leserbriefe: Rührende Nachwehen einer Zeit, in der über (linkes) Politikverständnis noch gestritten wurde. Hochschulprofs erinnerten sich damals, daß Sohn-Rethel „zur Politisierung der Naturwissenschaften entscheidend beigetragen“ hat. Denn er reihte die Naturwissenschaften in den gesellschaftlichen Überbau ein:

In „Warenform und Denkform“ wird gezeigt, daß es sich bei Kants „Kategorien“ von Wahrnehmung und Erkennen keineswegs um unveränderbare, göttliche, automatisch in jedes Hirn gepflanzte Konstanten handelt, sondern daß sie geprägt wurden von der Gesellschaft, genauer, von der Erfindung des Geldes. Erst jene „Realabstraktion“ vom Gebrauchswert durch das Geld, die zum Beispiel aus einer saftigen Wurstsemmel ein schnödes Objekt für 3 Mark 60 macht, erzwang und ermöglichte dem Denken die logische Abstraktion und abstrakte Begriffe wie„das Sein“, aber auch „der Gewinn“. Denkstrukturen spiegeln Kapitalstrukturen wieder. „Das Geld ist die bare Münze des Apriori.“ Oder: „Die Logik ist das Geld des Geistes.“

Zum 100. Geburtstag von Sohn-Rethel erinnert Radio Bremen und der Verlag von Sohn-Rethels Ehefrau, Bettina Wassmann, mit einer schönen Doppel-CD an eine Zeit vor Kreiter und vor der kollektiven Denunziation des Marxismus.

Auf CD 1 erzählt Sohn-Rethel in unpretentiöser Weise sein Leben: Geboren ist er in der Nähe von Paris. Das wollten seine Eltern nicht verlassen. So wurde der neunjährige Junge in Pflege gegeben bei einem mit der Familie befreundeten Düsseldorfer Großindustriellen. Ein klügerer Freund weckte Skepsis gegenüber der Mär, der 1. Weltkrieg sei ein unausweichlicher Präventionskrieg. „Ein Schleier zerriss.“ Einmal im Mißtrauen geschult, wünschte er sich zu Weihnachten 1915 dann auch gleich Marxs Kapital. Fürderhin gab es für ihn lange keinen Zweifel, daß es im Leben um die „Beseitigung dieser verfluchten, korumpierten, unsagbaren Gesellschaft“ geht. Spannend sind Sohn-Rethels Einschätzung des Spartakusaufstands (er habe leider eine spätere, erfolgversprechendere Revolution verhindert) ebenso wie Plaudereien über merkwürdige Tierhaltung (nämlich in Papierkörben) in Neapel und über die kleine deutsche Intellektuellenkolonie, besetzt mit Adorno, Bloch, Kracauer und Benjamin, im preisgünstigen Capri.

Ab 1931 arbeitete Sohn-Rethel auf Vermittlung seines Pflegevaters beim „Mitteleuropäischen Wirtschaftstag“. Ehe er, als Halbjude klassifiziert, 1936 in die Schweiz emigrierte, konnte er so die Widerstandsgruppe „Neu-Beginnen“ mit Informationen über die Verflechtung von Schwerindustrie und NSDAP versorgen. 1937 bewarb er sich um eine Lehrerstelle am in New York operierenden „Institut für Sozialforschung“ und scheiterte trotz Adornos Fürsprache an Horkheimers Veto. Von 1937-72 lebte Sohn-Rethel in England, seit 1951 als simpler Französischlehrer. 35 für die Wissenschaft verlorene Jahre. Auf Adornos Beerdigung fiel Sohn-Rethel Siegfrid Unseld in die Arme. So konnte 1970 endlich bei Suhrkamp sein Hauptwerk erscheinen. So ist der Tod jenes Mannes, der Sohn-Rethel 30 Jahre zuvor Zugang zu den Chefetagen akademischen Diskurses gewähren wollte, dafür verantwortlich, daß er doch noch wahrgenommen wurde und im Alter von 73 endlich die heißersehnte Unikarriere – in Bremen – starten konnte. Trotzdem frotzelt Sohn-Rethel auf der CD über das weihevolle Getue Adornos und über seinen wirtschaftspolitischen Unverstand.

CD 2 versammelt die altväterlich-romantisch-enthusiastische Beschreibung einer Vesuvbesteigung, eine Geschichte von zwei Ratten, die arbeitsteilige Kooperation besser hinkriegen als die meisten Menschen, und einen Vortrag, in dem Sohn-Rethel sein Lieblingsthema von der Aufteilung in Kopf- und Handarbeit exemplifiziert anhand italienischer Renaissancekünstler. So nüchtern Sohn-Rethels Stimme im biografischen Teil ist, so inbrünstig spricht er über die nächtliche Vesuvlandschaft. Die Fähigkeit zum Schwärmen ist eben unverzichtbar für einen zähen Marxisten. bk

CD ist im Buchhandel erhältlich. 2.1.99 auf Radio Bremen 2: Sohn-Rethel-Radionacht. Und jetzt noch ein aktuellerer Tip: Am 21.12. ab 22.05 h und 31.12. ab 17.05 h sendet RB 2 ein wild collagiertes „Klangporträt“ des Bremer Doms.