750 Kilometer Protest

Eine Woche lang marschieren Hamburgs Schüler rund um die Uhr durch die Stadt. Und protestieren damit gegen schlechte Lernbedingungen und die Sparvorhaben von Schulsenatorin Rosemarie Raab (SPD)  ■ Aus Hamburg Judith Weber

Nachts um zwei lockt die Demo vier Zuschauer auf die Straße. Ein Fernsehteam, in Daunenjacken und Mützen verpackt, und eine Reporterin plus Fotograf – sie alle sind müde, aber bemüht, das vor den fünfzig Demonstrierenden zu verbergen, die in ein paar Stunden wieder in der Schule sitzen und Mathe lernen werden. Vier Tage und Nächte des Protests haben die Jugendlichen heute hinter sich; drei liegen noch vor ihnen. Eine Woche lang wollen rund 2.100 Schüler durch Hamburg marschieren, 24 Stunden täglich, immer hin und her zwischen ihrer Zentrale, einem Bauwagen nahe der Uni und der Schulbehörde im Osten der Stadt.

Zwei Stunden dauert eine Runde. Dann ist Schichtwechsel; wie der Stab beim Staffellauf wird das Protestplakat an die nächste Gruppe übergeben. „Schulen in Not – 168 Stunden gegen den Bildungsabbau“ steht darauf. Gegen die schlechten Lernbedingungen an ihren Schulen protestieren die Jugendlichen und gegen das Vorhaben der Hamburger Schulsentorin Rosemarie Raab (SPD), an den Schulen jährlich zehn Millionen Mark zu sparen. Rund 900 Lehrer- Stellen sollen nicht eingerichtet oder durch Umschichtungen eingespart werden. Im Mai brachten diese Pläne 80.000 Demonstranten auf die Straße. Eine beeindruckende Zahl, findet die SchülerInnenkammer. Beeindruckend, aber nutzlos.

„Eine einmalige Aktion kann man ignorieren“, sagt Mitorganisator Sebastian Ferse. Deshalb, ergänzt Julia Liedtke, Vorsitzende der Kammer, „setzen wir jetzt auf Phantasie. Wir werden keine Ruhe geben, bis die Sparpläne vom Tisch sind.“

Rund 750 Kilometer wollen die Jugendlichen dafür zurücklegen. Morgens gehen sie an den Staus des Berufsverkehrs vorbei, mittags treffen sie andere Schüler, die vom Unterricht nach Hause kommen. Nachts, wenn niemand mehr zuschaut, laufen sie für wenige Autofahrer und Journalisten. An Kinos vorbei, in denen die Spätvorstellung längst zu Ende ist, und über einen Weihnachtsmarkt, der so verlassen daliegt wie am 27. Dezember. „Es kommt nicht darauf an, daß uns immer jemand zuschaut“, findet Gymnasiast Andreas Gloel. „Irgendwann werden alle wissen, daß wir hier demonstrieren.“ Außerdem, erklärt er, „ist es einfach ein klasse Gefühl, nachts aufs Klo zu gehen und zu wissen: Jetzt sind wieder welche unterwegs“. Vielleicht kommen die Schüler mit ihrem Marathonprotest ins Guinnessbuch der Rekorde, ganz sicher aber ins Fernsehen.

Beim Start am Montag kam auf jeden Demonstranten gut ein halber Journalist. Flugblätter sind unnötig, weil die Berichte der Tageszeitungen oder Nachrichtenagenturen weit mehr Aufmerksamkeit erregen. „Die Aktion ist stark auf die Medien zugeschnitten“, erklärt Ferse. Der Plan geht auf. Zum ersten Mal äußert sich Senatorin Raab direkt zu einer Protestaktion; wenn die Demo am Montag beendet ist, will sie sich mit den Jugendlichen treffen. Die schulpolitische Sprecherin der Grünen, Christa Goetsch, versorgt die SchülerInnen mit Gebäck, und CDU-Abgeordnete laufen sogar eine Runde mit.

An den Sparplänen ändert das nichts. Denn im Hamburger Haushalt klafft ein Loch von rund einer Milliarde Mark. „Die Schulbehörde muß genauso zur Konsolidierung beitragen wie alle anderen Ressorts“, erklärt Senatorin Raab. Ihre Behörde verfügt mit 3,9 Milliarden Mark immerhin über den größten Einzeletat des Stadtstaates. Zudem liegt die Hansestadt bei den Ausgaben pro Schüler an der Spitze aller Bundesländer: 11.000 Mark investiert Hamburg jährlich; in Bayern sind es nur 8.500.

Trotzdem ist die Demonstration erfolgreicher als jede andere zuvor. Lehrer, Eltern, Gewerkschaften und Politiker loben das Engagement und Durchhaltevermögen der Schüler. Die Jugendlichen erregen Aufmerksamkeit, ohne zu stören. Kaum jemand schwänzt auch nur eine Stunde Unterricht für die Aktion. Für die Gruppen, meist zehn bis fünfzig Personen, muß keine Straße gesperrt werden, und die Protestierenden bleiben selbst nachts um vier vor jeder roten Ampel stehen, auch wenn weit und breit kein Auto in Sicht ist.

„Die Lichtzeichenanlagen sind nur bei Grün zu überschreiten“, wiederholt Sebastian Ferse grinsend, was die Polizei, ständige Begleiterin der Jugendlichen, ihnen nahegelegt hat. Nachts um zwei, wenn die Fackeln der Protestierenden heruntergebrannt sind, helfen die Beamten dafür auch schon mal aus. Fahren zur Demo-Zentrale zurück und bringen von dort neue Fackeln mit.

Stehenbleiben, Feuer anzünden, weitergehen – Tim Zimmermann und Patrick Röwe wissen nicht mehr, wie oft sie das schon gemacht haben. Die beiden Schüler wollen einen persönlichen Demo-Rekord aufstellen: den 24stündigen Protest. Sechsmal sind sie schon mitgelaufen, mit kurzen Unterbrechungen, in denen sie sich „mal eine Frikadelle reingezogen haben“. Es geht um die Sache, erklärt Patrick: „Wir Schüler müssen die Kürzungen doch ausbaden.“ Doch die Aktion habe auch „eine sportliche Komponente: Mal sehen, wie lange ich durchhalte“. Die ausdauerndste Beteiligung an der längsten Demonstration der Welt – das wäre doch was.