Halbschlaf der Vernunft

Andreas Kriegenburg inszenierte Shakespeares „Sturm“ in Hannover  ■ Von Petra Kohse

Natürlich dachten alle gleich an Schleef. Wahrscheinlich auch die, die mit eigenen Augen noch nie eine von Einar Schleefs sagenhaften Ouvertüren gesehen hatten, nie eines dieser starren oder bewegten, in jedem Fall aber geschlossenen Bilder, nach denen es eine Pause geben muß, auch wenn der Einlaß keine halbe Stunde her ist und diese Pause die letzte des Jahrtausends wäre. Aber dies war nicht Schleef, denn Schleef hatte die Premiere seiner aktuellen Inszenierung „Wilder Sommer“ nach Goldoni in Wien gerade um zwei Wochen auf den 2. Januar verschoben, und auch wenn die erste Szene zwanzig Minuten dauerte, darin ein Chor auftrat und danach Pause war, war dies doch Hannover und eindeutig Kriegenburg. Nennen wir es ein Zitat. Ein Gruß ans Burgtheater, wohin Andreas Kriegenburg in der nächsten Spielzeit als Hausregisseur entschwinden wird. Shakespeares „Sturm“ ist nicht seine letzte Inszenierung in Hannover. Aber sie ist von solch einer Abschiedhaftigkeit geprägt, daß einem beim Zuschauen das Herz ganz schwer wurde und man beim Applaus gerne auf die Bühne gekommen wäre, um sich bei allen persönlich zu bedanken.

Angefangen bei der Bühnenbildnerin Susanne Schuboth, die für die Eingangssequenz einen nackten Schiffsbauch gebaut hat, den sie nach der Pause füllt mit einem See aus Rosenblüten und einem struppigen Reiher darin. Die die Schiffswände, an der die fürstliche Gesellschaft während des Sturms steht wie an der Klagemauer, wegnimmt und Kerzenleuchter verteilt, ein Fenster öffnet, einen Badezuber bereitstellt, Bücher und einen Sessel für Prospero sowie einen Käfig für Kaliban. Die also alles vorbereitet für einen festlichen Abschied voller müdem Herumrollen, ernsthafter Groteske und schlafwandlerischer Lebendigkeit. Den Abschied Prosperos von seiner Tochter, der Zauberei und der Insel, den Abschied Mirandas, des Hilfsgeists Ariel und des Urwesens Kaliban von Prospero. Eine Homestory gewissermaßen, in der die Außenwelt nicht einmal als Katalysator wirklich eine Rolle spielt.

Im Stück wird gezeigt, wie Prospero, der von seinem Bruder gestürzte Herrscher Mailands, mit Zauberkräften einen Sturm entfesselt, als zwölf Jahre nach seiner Verbannung der Hofstaat von Mailand und Neapel auf dem Weg nach Afrika vorbeikreuzt. Wie er am Strand Verwirrspiele mit ihnen treibt, bis ihnen ihre Schuld dämmert. Wie er dann aber merkt, daß Rache letztlich nichts zu rächen vermag, seine Tochter dem Sohn des Königs zur Frau gibt, Ariel und Kaliban freiläßt, seinen Büchern abschwört und beschließt, ins wirkliche Leben zurückzukehren. Bei Kriegenburg indes geht es um den Abschied als solchen, genauer: die Traurigkeit im Augenblick davor. Diesen einen Moment, in dem man eine Ahnung davon bekommt, wer man ist, weil man es schon nicht mehr ist.

Kriegenburgs Theater ist ein Theater der Melancholie. Ein Theater voller Herangeschwemmter und wieder Wegtreibender. Dabei aber ein gänzlich unpathetisches Theater, und so zitiert er beim Thema Schiffbruch im Anfangsbild zwar – Jetzt kommt die Flut! – expressionistische Sprechchöre und weißgeschminkte, augenaufreißende Starre, läßt aber auch schon Ariel in faunhafter Selbstvergessenheit Prosperos Bruder Antonio (Harald Baumgartner) umtanzen. Fünf Ariels gibt es insgesamt. Leila Abdullah, Gabriele Hägele, Caroline Nagel, Stephan Johannes Richter und Asad Schwarz. Später, nach der Pause, sausen sie halbnackt oder in duftigen Flatterkleidern durch Prosperos Reich, in komischen, viel zu großen Damenkleidern oder auch in Fettleibigkeitsanzügen mit riesigen Brüsten und dellenreichen Schenkeln.

Kaliban hingegen, gespielt von Wiebke Puls, hat, seit er versuchte, Miranda zu vergewaltigen, kein so apartes Leben mehr. Der Sohn der Inselgöttin muß bei Prospero (Markwart Müller-Elmau) in einem Käfig leben und Sklavenarbeit tun. „Prospero straft dich, weil er dich liebt“, souffliert Ariel Richter immer wieder, als Kaliban sich den ebenfalls gestrandeten Schiffstrunkenbolden Trinculo und Stephano andient, um sie zur Ermordung Prosperos anzustiften. Doch diese – Roland Koch und Alexander Simon mit Seitenscheitel, Koteletten, Jeansanzug, Sandalen und „Fottoapparat“ – enden im Vollrausch, aneinandergebunden.

Jede starke Farbe hat Kriegenburg aus den Trinculo-Stephano- Szenen herausgenommen. Kein Auftrumpfen mit Wortpointen in Versen gestattet er, wie es in Shakespeares Narrenszenen sonst üblich ist. Statt dessen blicken Koch und Simon ganz ernst vor sich hin und sind, als Touristen des Trübsinns, natürlich gerade komisch. Auch sonst fehlen Euphorie und Verzweiflung in dieser Geschichte gänzlich. Immer wieder schleicht das Drama wie auf Socken daher. Im Halblicht der Kerzen wird halblaut gesprochen, legt man sich zu gelassen-traurigen Gitarrenklängen von Tilman Denecke auf den Boden, rollt den Schiffsbauch hinab, wirft Rosenblätter in die Luft und schläft dann wieder ein. „Huh!“ möchte man manchmal ganz laut rufen, um die auf der Bühne ein bißchen zu erschrecken, und doch bezaubert diese dösende Melancholie auch immer wieder sehr.

Da defilieren die Ariels etwa in Mänteln an Prospero vorbei, weil er sie gefragt hat, was sie von ihm fordern, und sagen immer nur leise „Meine Freiheit“. Und versammeln sich dann, ganz am Ende, endlich freigelassen, vor dem geöffneten Fenster und summen nur, weil sie doch nicht gehen können. Auch Kaliban zieht sich freiwillig in seinen Käfig zurück, nachdem Prospero seiner Tochter, dem Schwiegersohn und all den anderen erst einige Clownssprünge vorgemacht und sie dann mit einer Handbewegung rasch nach Hause geschickt hat.

„Wir sind vom gleichen Stoff, aus dem die Träume sind, und unser kurzes Leben ist eingebettet in einen kurzen Schlaf.“ Buchstäblich hat Kriegenburg das inszeniert. Er läßt seine Figuren im Schwebezustand, im Halbschlaf der Vernunft, im Stadium der Intuition. In Gefahr geraten Schlafwandler erst, wenn man sie weckt. Vielleicht ist es das, was man auch gerne gesehen hätte.