Gelesenes und Erlesenes
: Wir empfehlen

■ Sibylle Tönnies

Das Buch, das nach meiner Ansicht unter den Tannenbaum gehört, ist keine Neuerscheinung, aber immer wieder spannend zu lesen. Es kommt aus keiner versteckten Nische. Es steht in jeder Kleinstadtbuchhandlung im Regal, und sein Titel ist jedem vertraut: „Anna Karenina“. Es wurde bereits verfilmt. Aber es geht in dem Buch hauptsächlich nicht, wie der Film und auch der Titel des Buches glauben machen, um die ehebrecherische Anna. Für Tolstoi ist die Figur ihres Mannes viel wichtiger, der mit Anna nur dadurch in Verbindung steht, daß er die Schwägerin ihres Bruders heiratet. Nach der Bedeutung, die das Buch ihm gibt, müßte es eigentlich „Konstantin Lewin“ heißen.

Tolstoi hat seinen Roman aus zwei voneinander unabhängigen Strängen geflochten: der Geschichte Annas und der Geschichte Lewins. Lewin aber ist Tolstoi selbst.

Man fragt sich, warum man zwei Romane, die gut auseinander herausgelöst werden könnten, in einem Buche rhythmisch abwechselnd zu lesen bekommt. Nach dem fünften Lesen glaube ich, daß Tolstoi dafür folgenden Grund hatte: Er kann es sich auf diese Weise erlauben, den Anna- Roman, der in den Salons und Reitbahnen der großen Welt spielt (unter Yuppies und anderen feinen Leuten, die sich von den heutigen überhaupt nicht unterscheiden), locker, witzig und ohne jede Moralinsäure zu schreiben.

Kein Wort der Verurteilung kommt über seine Lippen, obgleich das Motto des Buches lautet: „Mein ist die Rache, spricht der Herr.“ Im Gegenteil. Tolstois Auge kann den Glanz und die Schönheit dieser Welt voll erfassen, und es gelingt ihm, das Herz des Lesers so weit zu machen, daß er jede seiner Figuren liebgewinnt – auch den zunächst unsympathischen eifersüchtigen Ehemann, auch den allzusehr in den Zeitgeist verstrickten Liebhaber.

Durch den Kontrast nämlich zu der Liebesgeschichte zwischen Lewin und Kitty (die die Schwester von Annas Schwägerin ist), in der zwei Menschen ernsthaft, tastend und stolpernd nach dem Guten und Richtigen suchen, wird dem Leser heimlich und unausgesprochen eine verläßliche Richtschnur in die Hand gegeben, mit deren Hilfe er nicht nur den Anna- Roman beurteilen, sondern auch sich selbst – ganz unmerklich und ohne Regeln – moralisch orientieren kann.

Leo N. Tolstoi: „Anna Karenina“. Taschenbuch im Aufbau-Verlag, 1.183 Seiten, 25 DM; oder in Leinen im Winkler Verlag, 1.016 Seiten, 88 DM

Sibylle Tönnies ist Jura-Professorin an der Hochschule Bremen. Foto: Kay Michalah