„Synthese aus Düften und Farben“

■ Die Kammerphilharmonie erkundete in der Glocke mit dem Dirigenten Gérard Korsten die sinfonische Form

Die Spannung, welche DirigentInnen für welche Projekte eingeladen werden, ist bei den Konzerten der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen etwas größer als bei "normalen" Orchestern, kann man doch davon ausgehen, daß die Wahl vom Orchester entschieden und getragen ist. Beim letzten Abonnementskonzert konnte man mit dem Südafrikaner Gérard Korsten wiederholt einer Persönlichkeit begegnen, die ungewöhnlich mit Zeichengebung und Körpersprache umgeht. Taktschlagen, oder gar nur die Eins geben, das gibt es bei dem ehemaligen ersten Konzertmeister des Chamber Orchestra of Europe nicht. Korsten formt aus dem Körper gezogene Linien, springt bei Synkopen quasi ins Orchester oder zeichnet mit seinem Arm die herunterstürzenden Läufe der ersten Violine nach. Das setzt eine Probenarbeit voraus, in der jenseits des "Gehorchens" ein Konsens über die Interpretation erreicht wurde.

Diesen Eindruck machte das letzte Konzert durchgehend. Joseph Haydns letzte Sinfonie in D-Dur, Nr. 104, verdeutlichten die MusikerInnen wieder einmal als eine der ganz großen Gattungsbeiträge vor Beethoven: Kaum Vibrato, charakteristische Tempi – hier besonders der deftige Menuettsatz – waren die Basis von Diskurs und Dramatik. Gut ausgeformt wirkte eine Rhetorik, die mit quasi "abgerissenen" Sätzen immer wieder auf die Sprachähnlichkeit der Musik verwies.

Haydns ästhetisches Prinzip, höchste Kunstfertigkeit mit volksnaher Verständlichkeit zu verbinden, prägt auch noch das Werk von Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen "Schottische Sinfonie" altschottische Balladen zur Grundlage hat. Mehr als überzeugend, geradezu packend in den atmosphärisch dichten Schilderungen der Natur und des Kolorits, den lapidar erzählenden Unisono-Stellen, der akustischen Ausgewogenheit der Instrumente und dem zauberhaften Drive, der so typisch ist für den frühen Mendelssohn: Goethe nannte Mendelssohn den Liebling der Götter. Keine Zugabe konnte nach diesen beiden Lösungen der sinfonischen Gattung besser passen als der letzte Satz von Ludwig van Beethovens erster Sinfonie, mit der der Wiener Meister eine Serie von neun Sinfonien einleitet, in der jede eine eigene Physiognomie hat.

Auch wenn im späteren Lebenswerk von Benjamin Britten sich der Eindruck eines gewissen Eklektizismus nicht vermeiden läßt, so zeigen seine frühen Werke, daß sein stilistischer Weg auch anders hätte gehen können. Mit dem selten gespielten Liedzyklus "Les Illuminations" jedenfalls schrieb Britten eine ebenso wilde und ursprüngliche Musik wie eine klangfarblich ungemein differenzierte, die den Text von Arthur Rimbaud häufig direkt umzusetzen versteht. Die dichterische Sprache müsse, so der Dichter, "eine Sythese sein aus Düften, Tönen und Farben". Es ist erstaunlich, wie nahe Britten diesem Ziel kommt. Dieser Eindruck ist allerdings auch das Ergebnis einer überragenden Interpretation, in der die kanadische Sängerin Nancy Argenta eine zentrale Rolle spielte. Ihre instrumental geführte Stimme fügte sich klangfarblich aufregend in den Orchesterapparat ein und behielt doch immer ihre vokale Eigenständigkeit. Begeisterter vorweihnachtlicher Beifall in der ausverkauften Glocke.

Ute Schalz-Laurenze