Botschaften aus dem Eis

Unter der glatten, gefrorenen Oberfläche liegen Geheimnisse – Das Arsenal zeigt in der Reihe „Weiß wie Schnee“ acht Filme aus der landschaftlichen Tiefkühlbox  ■ Von Cristina Nord

Am Ende schneit es doch. Dicht treiben die Flocken vorm Fenster, es stürmt ein wenig, der Hof liegt unter einer weißen Decke begraben. Für die Mutter und die sieben Kinder, von deren hartem Los Sandrine Veyssets Spielfilm „Gibt es zu Weihnachten Schnee?“ (1996) erzählt, kommt der plötzliche Wintereinbruch als Rettung. Wie Balsam legt sich der Schnee auf Wunden, spendet Trost und ein wenig Hoffnung und macht zumindest für einen Augenblick vergessen, wie wenig das Leben in der französischen Provinz hergibt, wenn man arm ist und abhängig von einem Mann, der es an Geiz, Jähzorn und Lieblosigkeit nicht mangeln läßt.

Obwohl nur mit diesem einen Winterszenario versehen, bildet „Gibt es zu Weihnachten Schnee?“ den Auftakt für eine kleine Reihe meist jüngerer Filme, die das Arsenal-Kino ab heute – passend zu Weihnachten und Jahreswechsel – unter dem Titel „Weiß wie Schnee“ zeigt. Mit dabei sind unter anderem Joel Coens „Fargo“ (1995), Tom Tykwers „Winterschläfer“ (1997), Ang Lees „The Ice Storm“ (1997) und – als einzige ältere Produktion – Douglas Sirks Melodram „All That Heaven Allows“ (1955). In allen Filmen spielen Schnee, Eis, weiße Landschaften und zugefrorene Gewässer eine wichtige Rolle: als Kulisse für den oft tragischen Handlungsverlauf, als metaphorische Verlängerung der glatten Fassaden, hinter denen sich Rätsel, Geheimnisse und Verbrechen verbergen, als Hintergrundfarbe, die die Akteure bald deutlich konturiert, bald als kaum unterscheidbare Partikel im Schneegestöber erscheinen läßt. Denn das Weiß kann sowohl für Klarheit sorgen als auch verschleiern; Schnee verdeckt und verrät gleichermaßen.

Letzteres geschieht zum Beispiel in Bille Augusts „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ (1996), dessen Protagonistin einem Verbrechen auf die Schliche kommt, weil sie Fußspuren im Schnee richtig zu deuten weiß. Zwar verschenkt August den zunächst sehr spannenden Plot an ein etwas krudes Szenario aus arktischen Würmern, Meteoriten und besessenen Wissenschaftlern, die der Forschung und dem Geld zuliebe über Leichen gehen. Beeindruckende Bilder bietet „Fräulein Smillas Gespür“ trotzdem: etwa die Kamerafahrten durch grönländische Gletscherlandschaften, die Unterwasserszenen, die die andere Seite der Eisschicht zeigen, und schließlich die Aufnahmen einer Flutwelle, unter der eine meterdicke Eisdecke zersplittert.

Sosehr die weiße, glatte Oberfläche der Schneedecke eine heile Welt suggeriert, so läßt sie doch auch ahnen, daß es darunter brodelt. Deswegen bieten sich winterliche Szenarien geradezu dazu an, Familiendramen zu grundieren. So ist es kein Zufall, daß Ang Lee eine spiegelblanke Landschaft als Kulisse für „The Ice Storm“ wählt. Die Protagonisten, zwei Ehepaare aus dem provinziellen Connecticut, versuchen sich im Watergate- Jahr 1973 an einer ebenso hilflosen wie spießigen sexuellen Revolution. Längst erstarrt, spielen sie sich eine heile Welt vor. Und so glatt gerät ihnen die Inszenierung, daß sie geradewegs in die Katastrophe schlittern.

Einen Höhepunkt erfährt das Spiel um glatte Oberflächen und Fassaden in Atom Egoyans „Das süße Jenseits“. Um einen Unfall herum – ein Schulbus voller Kinder kommt von der Fahrbahn ab und versinkt in einem zugefrorenen See – entspinnt sich ein komplexes Netz unterschiedlicher Zeitebenen und Erzählstränge. Zu verbergen haben die Figuren allerlei: Ehebruch, Drogensucht, Inzest. Doch ob das, was den Protagonisten, den Anwalt Mitchell Stevens (Ian Holm) antreibt – die Suche nach einem Plan hinter dem Unfall, nach einem Rätsel, das gelöst werden will –, eine Berechtigung hat, bleibt im dunkeln. Ohne Erfolg fahndet er in der verschneiten Landschaft nach den Spuren eines Verbrechens, befragt die Eltern, deren Kinder umgekommen sind, drängt die wenigen Überlebenden zu Aussagen. Der Wahrheit über den Hergang des Unfalls kommt er dabei kein Stück näher, im Gegenteil, am Ende wird er auf eine offensichtliche Lüge zurückgeworfen. Die Landschaft gibt kein Geheimnis und kein Rätsel preis. Je undurchdringlicher die Schneedecke, um so eher kann Mitchell an ein Verbrechen glauben, kann er die weiße Fläche für seine Projektionen nutzen – fast so, als würde er Bilder auf eine Leinwand werfen.

Die Filmreihe „Weiß wie Schnee“ läuft heute, 22.12., und vom 25.12. bis 31.12. im Kino Arsenal, Welser Straße 25, Schöneberg

22.12. „Gibt es zu Weihnachten Schnee?“, 21 Uhr; 25.12. „Gibt es zu Weihnachten Schnee?“, 19 Uhr; 26.12. „Das süße Jenseits, 21 Uhr; 27.12. „Der Eissturm“, 19 Uhr; 28.12. „Der Gejagte“, 21 Uhr; 29.12. „Winterschläfer“, 21 Uhr; 30.12. „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“, 19 Uhr; 31.12. „Fargo“, 19 Uhr; „All That Heaven Allows“, 21 Uhr