Mein Engelsbody

Ich bekomme die Geschichte jedes Mal neu erzählt. Es dauert nie lange, bis jemand die alte Sache anspricht: „Wißt ihr noch damals, der Felix...“ Und dann lachen alle, hauen sich auf die Schenkel und geben mir zwinkernd Knuffis, daß man sich eigentlich mitfreuen müßte, wenn sie nur nicht alle über mich lachen würden. Dabei ist die Geschichte schon über zehn Jahre her, ich war damals in der fünften Klasse. Meine Mutter hatte mich beim Pfarrer für das Krippenspiel angemeldet.

Am 24. Dezember, dem Tag der Aufführung, konnte ich mich vor Aufregung gar nicht richtig auf die Geschenke freuen. Der Pfarrer hatte mich zu den Engeln abgeschoben, obwohl da sonst nur Mädchen waren. Und dann sollte ich auch noch einen Satz zu den Hirten sagen. Ich habe schon damals bei Problemen gerne zur Flasche gegriffen. Egal ob es sich um Müdigkeit, Kopfschmerzen, Liebeskummer oder übermäßige Nervosität handelt – bei mir hilft am besten ein kräftiger Schluck Coca-Cola. „Die Menge macht's!“ dachte ich mir und schenkte mir bei jeder Gelegenheit ein Gläschen ein.

Am Abend stand ich mit feuchten Händen in der Kirche auf der Bühne. Im weißen übergroßen Engelsbody, mit goldenen Locken auf dem Kopf und silbernen Flügeln am Rücken. Der Pfarrer ließ sich Zeit. Zwölf Engel traten auf der Bühne von einem Fuß auf den anderen. „Gibt es eigentlich in Kirchen Klos?“ dachte ich noch, da ging das Stück los. In meinem Bauch fühlte ich ein leichtes Ziehen von der Aufregung und ein starkes Drücken von der braunen Brause. Ich schaute in die vollen Zuschauerreihen. Das Drücken und Ziehen wurde immer mächtiger, fast schon übermächtig. Als mein Einsatz kam, trat ich wie in Trance vor und sprach mit lauter, klarer Stimme meinen Satz. Ich trat zurück in die Reihe der Engel, und eine ungeheure Erleichterung machte sich bei mir breit. Naß und warm lief es an meinem Bein herunter. Das Blut schoß mir ins Gesicht, der Urin weiter in die Hose. Ich stolperte rückwärts und mit hochrotem Kopf von der Bühne. Der Engelsbody war mit Sicherheit im Eimer, ich hatte zu diesem Zeitpunkt eh nicht mehr vor, im nächsten Jahr wieder aufzutreten. Meine Verwandten waren rücksichtsvoll genug, mich an diesem Abend nicht auf mein Mißgeschick anzusprechen, ich wurde nur für meine tolle Stimme gelobt. Im nächsten Jahr war es dann aber mit der Zurückhaltung vorbei. Die Familie lacht seitdem alle Jahre wieder. Felix Göpel