Zusammenhalten

Er konnte wirklich nichts dafür. Zumal es ihm sicher auch lieber gewesen wäre, diese Weihnachten mit seiner Frau zu verbringen. Aber die war ein paar Wochen zuvor gestorben. Nach langer, schwerer Krankheit.

Natürlich war es für meine Mutter eine heilige Pflicht, unseren Nachbarn für den Heiligen Abend in den „kleinen Kreis unserer Familie“ einzuladen. Nicht gleich während der Beisetzung (obwohl sie es da schon im Kopf gehabt hatte), aber nach einer gewissen Frist. Auf dem Land muß man zusammenhalten.

Daß man für solche Gesten irgendwann in den Himmel kommen würde, wußten wir Kinder schon aus dem Jahr davor. Denn da hatte unsere Tante Sophie aus Eckwarderhörne das Fest mit uns verbracht (um genau zu sein, war es die Tante meiner Großmutter mütterlicherseits, also meine Urgroßtante, und schwerhörig war sie auch.)

Die Anreise war für die alte Dame so beschwerlich, daß man beschlossen hatte, Tante Sophie selbstverständlich bis Neujahr zu beherbergen. Weil Verwandte zusammenhalten müssen. Und damit sich der Aufwand auch lohnt. Die angepeilte Gewinnmaximierung rächte sich dann allerdings fürchterlich, als an Silvester ein Jahrhundertwinter über uns hereinbrach und jeglichen geordneten Rücktransport unmöglich machte. Tante Sophie mußte ihre Abreise verschieben, und wir warteten auf besseres Wetter. Die Tante blieb bis Rosenmontag. Wir hatten Tränen in den Augen, als sie abfuhr.

Wir bemühten uns, Herrn Bünter nichts von unserer Enttäuschung spüren zu lassen, nun schon wieder nicht en famille sein zu können. Er seinerseits versuchte uns aufzuheitern, indem er uns vor, während und nach der Bescherung von seinen beiden Weltreisen erzählte. Unweigerlich tauchte in den Berichten immer wieder seine Frau auf, was ihn dann regelmäßig eine Träne kostete. Mein Vater schenkte ihm in diesen traurigen Momenten noch einmal nach. Zum Trost. Und wohl auch, um ihn bettschwer zu machen.

Als es an diesem Abend anfing, heftig zu schneien, konnte ich mich über die weiße Weihnacht nicht recht freuen. Aber meine Befürchtungen waren unbegründet. Herr Bünter ging noch in der gleichen Nacht zurück in sein einsames Haus. Er starb im März des folgenden Jahres an gebrochenem Herzen. Klaudia Brunst