Des Pfirsichs Kern

Der 24. Dezember 1956 war ein eisiger Wintertag. Das aber nur nebenbei. Es war vor allem mein erster Heiligabend! Und beinahe auch mein letzter. Es kamen nämlich zwei meiner Onkel samt einer Tante aus dem Ostfriesenlande, um mir ihre Gaben zu Füßen zu legen. Das wurde auch Zeit, war doch der strahlende Stern meiner Gegenwart bereits im Februar über der Familie aufgegangen. Tante Emmi reichte mir einen Schnuller dar. Das war gut, weil es immerhin einen Fortschritt gegenüber den mit süßem Tee getränkten Taschentuchknoten verhieß, mit denen mich meine Oma zu knebeln pflegte. Onkel Hermann präsentierte mir mit männlichem Stolz einen Nachttopf. Das war auch gut, versprach es doch ein Ende des unwürdigen Windelns. Onkel Karl schließlich entbot mir einen wunderbar sanftpelzigen Pfirsich. Das war nur teilweise gut.

Zum einen, weil Oma ihn umgehend aufaß, zum anderen, weil sie mir anschließend den Kern zum Ablutschen zwischen die Lippen schob. Zum dritten, weil ich den Kern verschluckte. Danach war die Atmosphäre in der festlichen Stube ein bißchen gespannt. Mein 11 Monate und 22 Tage alter Darm auch. Aber „den holen wir schon wieder“, unkte Oma jovial-mehrdeutig, griff in die Hausapotheke, tränkte den Schnuller mit Rhizinusöl, klemmte ihn mir zwischen die zahnlosen Gaumen und setzte mich auf den neuen Nachttopf. Da thronte ich dann geraume Zeit und nahm die beschwörenden Gebete der Sippe entgegen. Mit einem klackenden Geräusch gewährte ich schließlich den Meinen die Erfüllung ihres Flehens.

Omas überlieferten Kommentar – „Na also, da ist ja des Pudels Kern“ – finde ich nach wie vor alles andere als angemessen, aber auch wenn seitdem viele Jahre vergangen sind, eine Urerinnerung an jene Momente hoheitsvoller Erhabenheit begleitet mich beim Vollzug gewisser Verrichtungen noch heute. H.G. Hollein