Das Foto

Manche Schritte brauchen 28 Lebensjahre, bevor man sie macht. „Ich werde Heiligabend nicht da sein.“ Sechs Worte, die, vor einem Jahr ausgesprochen, bei meinen Eltern eine einsilbige Krise namens „Wiiieeeee?!?“ auslösten. Denn welchen triftigen Grund hatte ich vorzuweisen, der diesen Tabubruch rechtfertigte? Kinder? Arbeit? Eben. „Urlaub“, sagte ich. Es klang tatsächlich ein wenig profan.

„Du hast ihnen klar gemacht, daß du erwachsen bist“, ermunterte mich Freundin Silke, und ich dachte, daß an ihr eine wunderbare Psychologin verlorengegangen ist. Im Flugzeug auf dem Weg an die Elfenbeinküste war denn auch alle Last von mir gefallen. „Nehmt eine Visa-Card mit. Damit kommt ihr überall in Afrika durch“, hatte Jean-Michel empfohlen. Der Mann, der mich einst liebte, würde mich nicht anlügen. Dachte ich.

Bis wir pleite waren und die ivorischen Bankangestellten glaubhaft versicherten, nur Europäer könnten auf den abwegigen Gedanken kommen, für Plastikkarten werde auch nur ein Franc herausgerückt. Silke blickte finster. „Jean-Michel“, hub ich an. „Der Idiot“, berichtigte sie.

Am 23. Dezember abends griff ich zum Telefonhörer. „Mama?“ Es war keine Frage. Selbstverständlich würde sie ihre Weihnachtsgans stehenlassen. Würde früh morgens am Heiligen Abend sich in Gruiten, Neandertal, in die S-Bahn setzen, am Düsseldorfer Hauptbahnhof in die Direktbank stiefeln und 1500 Mark gen Abidjan, Elfenbeinküste, anweisen. Und das meiner Mutter. An Weihnachten, das ich nicht mit ihr hatte verbringen wollen. Ich litt.

Drei Stunden später kämpfte ich mit etwa zwei Kilo Geldscheinen. Sie sprengten jeden Bauchbeutel. Silke wollte die Präsidentinnen-Suite trotzdem nicht.

Nach unserer Rückkehr erhielt ich Post von zu Hause. Eine Weihnachtsaufnahme, „zur Erinnerung“. Festlich gekleidete Menschen saßen um einen Tisch. Ein Platz war leer, der Teller unbenutzt. Davor stand ein Foto. Mein Foto.

Silke verstand. Unser weihnachtliches Reiseziel heißt in diesem Jahr Tansania, das Zahlungsmittel US-Dollar. Cash. hh