Das Verhängnis eines Apolls

■ Im Kino: Nina Grosses „Feuerreiter“ will Hölderlins Wahnsinn erklären

Alle ernstzunehmenden, klugen, gebildeten Menschen finden Nina Grosses „Feuerreiter“ ganz erbärmlich. Ich hingegen mußte nach dem Kinobesuch suchtartig den einzigartigen Lindt-Schoko-Adventskalender des Kollegen vernichten. Untrügliches Zeichen, daß mich der Film emotional bewegte. Soviel über redaktionelle Eßsitten, nur, damit die Befangenheit des folgenden Textes gleich von Anfang an klar ist. Schließlich weiß alle Welt, daß man schlechten Geschmack dadurch wett machen kann, daß man an alle heiklen Vorlieben-Bekenntnisse den Satz anhängt: „Ich weiß schon, ich habe da einen furchtbar schlechten Geschmack, hihi.“ Das Hihi sollte keinesfalls fehlen.

Grosse wird vorgeworfen, sie reduziere ein komplexes Schriftstellerleben auf eine Liebesgeschichte. Nun trifft die Absolutheit beanspruchende Passion Hölderlins zu Susette Gontard/Diotima tatsächlich ins Zentrum einer Existenz, die beeinflußt von pietistischer Innerlichkeit und spinozistischen Pantheismus nichts lieber wollte als verschmelzen mit Gott und der Welt – und wenn sich eben nichts anderes weit und breit bietet, dann mit der hübschen Frau eines Frankfurter Kaufmanns. Auch die Schönheit des Hölderlindarstellers Martin Feifel wird bisweilen moniert. In der rororo-Monografie finden sich allerdings Dutzende von Hinweisen auf Hölderlins akzeptable Erscheinung. „Studiengenossen haben erzählt, wenn er vor Tische auf- und abgegangen, sey es gewesen, als Schritte Apollo durch den Saal.“ Nur Höflichkeit? Vielleicht. Allerdings ist es auch ein Klischee, daß Lyriker immer blutleer und zerrupft aussehen müssen.

Ein Abgleich mit der rororo Monografie klärt schnell auf, daß der Film einigermaßen faktentreu ist. Der ehemalige Theologiestudent wollte – ähnlich wie sein Vorbild Rousseau – als Hofmeister nicht nur ein paar Oberklassenkinder erziehen, sondern damit gleichzeitig einen Beitrag zu einer freieren Welt leisten: Die französische Revolution durchlüftete gerade jedes Gehirn. Dabei litt Hölderlin grenzenlos daran, als Domestik behandelt zu werden. Der Standesunterschied zur Gontard ließ Hölderlin zu seinem Freund Sinclair flüchten. Allzusehr klaffte Ideal und Realität auseinander. Erst traf er sich noch sporadisch mit der Gontard, später setzte er einen männlichen Schlußstrich und unterrichtete als Hauslehrer in Bordeaux. Vermutlich war es wirklich die Nachricht von ihrer Krankheit, die ihn nach Deutschland zurückholte.

Daß die verschworene Genieballung des Tübinger Stifts – Schelling, Hegel, Hölderlin, Sinclair – schwule Vibrationen freisetzte, ist denkbar. Grosses homoerotische Beziehung zu Sinclair ist aber nicht dokumentiert. Sinclair war auch nicht der ältere, dominante Freund, sondern fünf Jahre jünger als Hölderlin. Daß die Gontard dann aber an schnöden Pocken und nicht an Liebeskummer starb, verschweigt Grosse dezent. Nicht ganz unnaheliegend ist es, wenn auch Kitsch, daß Hölderlins Wahnsinn durch eine Mischung aus politischer, vor allem aber erotischer Enttäuschung und ökonomischer Unsicherheit ausgelöst wurde. Zwei Menschen lieben sich also zu Tode: Natürlich mißbraucht Grosse das Zeitalter der Frühromantik, um eine Liebeskonzeption zu zeigen, die in unserer Zeit so ungebrochen kaum durchzuhalten wäre – nicht im Leben, nicht im Film. Na und? Aber selbst Schoko-Kalender-Plünderer verübeln der Regisseurin manchmal, daß Postkutschen vor wogenden Mohnblumenfeldern fahren und Einsame sich in eisigen Schneelandschaften verlieren. Es retten wunderbare Schauspieler. bk

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