Soll ich Hillu heiraten – oder Dieters Exfrau?

Was vom Jahre übrigbleibt, ist dies: „Bundeskanzler Gerhard Schröder.“ Aus den sieben Chinakladden eines seltsamen Sportreporters  ■ Von Peter Unfried

Lassen Sie mich jetzt mal eine Geschichte erzählen. Es handelt sich um eine wirklich seltsame Geschichte.

1. Da ist ein Sportreporter. (Ich kenne ihn flüchtig.)

2. Der kann sich nichts merken. Aber auch gar nichts.

Deshalb schreibt er Zeug in Chinakladden. Sieben für 1998. Ich habe die Kladden gelesen und lektoriert. In so einer Kladde steht, zum Beispiel: „12. Dez. Horst Szymaniak (63) kommt zur Weihnachtsfeier von Tasmania Berlin (6 267 848).“ Oder: „17. Mai. Dabei gelingt es dem gelernten Anstreicher immer wieder mühelos, Farbe ins Spiel zu bringen (FAZ über Otto).“ Wozu das? Tagebuch. Sagt er. Alles, was in den Kladden steht, sagt er: bleibt. Ist wichtig. Es ist wirklich eine seltsame Geschichte. Lesen Sie sie trotzdem. Lesen Sie.

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16. Jan. Das Ende der Welt heißt Altenberg, Erzgebirge. Dahinter kommt nur noch Zinnwald. In den Kohlgrund von Altenberg hineingebaut steht eine Eisrinne. An deren Ziel steht der US-amerikanische Rodler Wendell Suckow und sagt voller Inbrunst: „Er ist ein wahrer Sportsmann. Viele Leute erkennen gar nicht, wie großartig er ist.“ Der gute Wendell steigert sich richtig rein. Es sei so with Schorsch, sagt er: You've got to like him.

16. Jan. Treffen mit Herrn Hackl. Herr Hackl ist zuerst nervös. Rasende Weißwurst, sagt er schließlich, da kann ich drüber lachen.

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8. Feb. Olympia in Nagano. „Aktuelles Sport-Studio“.

Steinbrecher (Moderator): „Ein Höhepunkt der Eröffnungsfeier war das Entzünden der Flagge.“

Schloder (Gast): „Feuer.“

Steinbrecher: „Ja, vorher auch schon.“

9. Feb. Prima. Gold für Schorsch.

22. Feb. Die Olympia-Top 10 „visuelle Stimulation“ (nicht zur Veröffentlichung!): 1. Anjelika Krylowa, 2. Hilde Gerg, 3. Georg Hackl, 4. Kati Winkler, 5. Franziska Schenk, 6. Hermann Maier, 7. Pascha Gritschuk, 8. kanadische Eisschnelläuferin, 9. Gianni Romme, 10. Oliver Stirnemann.

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16. März. Lese in Bild den Kommentar eines gewissen Alfred Draxler: „Wer nichts bringt, darf auch nicht kräftig abkassieren.“ Genau, Alfred.

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Einschub: Falls Sie sich fragen, ob das jetzt so weitergeht. Ja. In diesen Kladden finden sich (meiner Meinung nach bisweilen entlarvende) Hinweise auf berufliches Selbstverständnis und gewisse Denkstrukturen, aber kaum Notizen über das private Leben eines Menschen. In den Kladden steht nur so was wie: „Herr Tröger, ich danke Ihnen für die sehr offenen Worte (Kerner, ,Sport-Studio‘, 9. Jan).“ Ab und an schimmert politisches Bewußtsein durch („Diese Hillu, hm, schade“, 28. Sep.).

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1. Juni. Verdammt. Die Kladde „April/Mai“ ist nicht mehr aufzufinden. Jetzt ist es, als hätte es diese Monate nie gegeben.

(Anm. des Lektors: Das stimmt. Die Kladde fehlt tatsächlich.)

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15. Juni. Berti betreffend: „Alles läuft nach seinem Plan.“ (Zusatznotiz am 12. August:) Wer hat das geschrieben? (Vermerk im Dezember:) Ich doch nicht!

19. Juni. Saint-Paul-de-Vence. Nachts um drei will Holg plötzlich die Cordoba-Elf aufgezählt bekommen. Komme auf zehn und die Einwechslungen (Hans Müller, Fischer). Habe aber für einen Moment völlig vergessen, daß Dieter Müller jemals Nationalmittelstürmer war. Wer schoß das dritte Tor der Österreicher? Krieger? Hickersberger? Komme nicht auf das Naheliegende (Berti).

20. Juni. Saint-Paul-de-Vence. Nachts um drei will Holg plötzlich die Cordoba-Elf aufgezählt bekommen. Die der Österreicher. Komme auf neun. Habe aber für einen Moment völlig vergessen, daß Obermayer je existiert hat, Kreuz leider auch. Schröder kann angeblich die von 1954. Er sagte sie neulich in Polen auf.

23. Juni. Nizza. Als doch manche etwas über die Vorfälle von Lens wissen wollen, bellt Berti: „Können wir jetzt endlich über Fußball reden?“

Sunday Independent (frustriert): „Alles, was wir können, so schaut das aus, können die Deutschen noch besser.“

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25. Juni. Montpellier. Ein Plakat: Pardon, Frankreich. Man hätte Holgs Eier gewettet darum, daß Matthäus als Letzter einläuft. Dafür geht Thon als Erster durch die Mixed Zone. Herr Thohohon! Thon sagt, er habe alles gesagt. Seltsamerweise kommt er dann doch zurück und fragt höflich: „Was wollen Sie wissen?“ Schweigen, dann antwortet er selbst. „Die entscheidende Frage ist ja: Warum er mich ausgewechselt hat. Das ist die Frage für mich. Die sich heute stellt. Die ich aber noch nicht beantworten kann.“

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27. Juni. Hinter dem Stade Velodrome fährt ein Nahverkehrswurm in die Hochhäusergebirge um Marseille. Unten spielen Italien und Norwegen. Ein Asiate hämmert hektisch in seinen Laptop. Man kann sich nicht vorstellen, als Depp, daß da ein Spielbericht rauskommt, wo er die Spalten von rechts nach links und oben nach unten mit komplizierten Schriftzeichen füllt. Welches steht wohl für: Standardsituation? Was für: Es kam, wie es kommen mußte?

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29. Juni. Montpellier. Nenne jetzt Thon in Gedanken plötzlich Olaf. Notiere: Ist es wohl richtig, daß Olaf heute auf der Bank sitzen muß? Berti (glücklich): „Nur über den Kampf haben wir es wieder geschafft, in diesem schönen Frankreich bleiben zu dürfen.“

30. Juni. Im TGV nach St. Etienne. Eigentlich sollte dieser Text locker daherkommen, lässig, spritzig, verspielt, charmant. Aber das liegt uns Deutschen ja nicht. Das weiß man nicht erst seit Thomas Mann. Der schließlich auch nur deshalb so dicke Dinger schrieb, weil er durch Fleiß substituieren mußte. Auch dieser Text, geschätzte Leser, konnte folglich nur mit Hilfe deutscher Tugenden entstehen.

30. Juni. St. Etienne. Owen sensationelle. (Später hinzugefügt:) Keine Ahnung mehr, was das e soll. Beckham? Sunday Sports: „Dear Posh, never let that pillock see your breasts again.“

4. Juli. Lyon. Kroaten singen: Auf Wiedersehen. Notiere: Kahn, Wörns, Rehmer, Thon...

7. Juli. Marseille. (Anm. des Lektors: Mit dickem Filzstift steht über der Originalnotiz der Satz: „Das großartigste Spiel aller Zeiten!!!“ Die Originalnotiz lautet:) Kaum hat Kollege K. erleichtert verkündet, die Verlängerung blieb einem ja nun erspart, hüpft die dicke Freundin von Albert Grimaldi vor Begeisterung. Offenbar Holländerin. Schön für sie. Mir tut es weh, denn sie ist ziemlich dick und vibriert entsprechend, und ich sitze nur drei Meter entfernt und muß langsam mal dringend aufs Klo. Gleich neben Albert und seiner Dicken sitzt aber Blatter. Tolle Plätze, aber wg. Sicherheitsbeamten kommt man nicht durch. Kurze Pause zwischen der ersten und zweiten Verlängerung. Muß immer dringender aufs Klo. Hoffe verbissen auf kurzfristige Wiedereinführung des Golden Goal. Schaue zu Blatter. Da tut sich aber nichts. Dränge zum Ausgang. Man läßt mich nicht durch. Verdammter Blatter. Wie lange noch? Elferschießen. Scheißegal, gestikuliere, zeige dahin, wo ich die Blase vermute. Renne aufs Klo. Aaah. Wirklich großartig. Schreibt K. am nächsten Tag auch.

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10. Juli. Paris. Metro 12 nach Porte de Versailles. Jemand schenkt mir eine Autogrammkarte von Horst Köppel. Seltsam.

11. Juli. Paris. R. erwischt mich mobil mit einer Frage: Soll ich S. heiraten? Scheiße. Eine Frage, auf die ich nicht vorbereitet bin. Kann ja nicht einmal sicher sagen, ob Häßler spielen soll oder nicht. Obwohl ich mich damit Tag und Nacht beschäftige. Stammle rum. Lese R. vor, was ich von Tori Spelling notiert habe („Ich zog auf einem Europaflug extra einen Rock an. Mein Freund und ich gingen in die Bordtoilette.“). Empfehle dann eine Ärztin oder Anwältin. R. scheint erleichtert.

12. Juli. Saint Denis. WM-Finale. Enttäuschung. (Anm. des Lektors: Auffällig! Seit dem Pißproblem werden in dieser Juli- Phase verstärkt fast-persönliche Dinge erörtert!) Das soll das WM- Finale sein? Fühle nichts. War wohl zu sehr auf Brasilien fixiert.

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23. Aug. Budapest. Leichtathletik-EM. Nach einer Woche halte ich es nicht mehr aus und frage. Samu, frage ich, warum färben eigentlich 50 Prozent der ungarischen Bevölkerung ihr Haar blond – und, Zusatzfrage, warum gehören alle einem Geschlecht an?

Samu ist irritiert. Er fragt seine ungarischen Fachkollegen. Keiner weiß eine Antwort. Meine Frau ist blond, sagt er schließlich. Und daß er glaube, ihr Blond sei echt. Ich gehe ins Stadion. Und schüttle mich vor Lachen. Hahaha. Der glaubt bestimmt auch an den Weihnachtsmann – oder (jetzt packt mich das Entsetzen) daß die Leichtathletik sauber sei.

29. Aug. Neubrandenburg. Eine Plattenbausiedlung. Im Parterre ein Laden. Scheinbar. Eigentlich ein Versprechen fürs Leben: „Glücklich mit Tieren aus Zanders Zoohandlung“. Daneben ein Schröder-Plakat. Habe meine Zweifel und kaufe nichts. (Erstaunliche Ausnahme! Der Lektor.)

31. Aug. Der Kommissar: „Nehmt sie auseinander. Spielt sie gegeneinander aus. Auch du, Harry! Unser Beruf ist nicht immer angenehm.“ Tragisch! Auch 25 Jahre später kann Harry keinen gegeneinander ausspielen. Grüble, warum nicht. (Die Regelnotiz, der Lektor.)

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2. Sep. Goldene Hochzeit von Italia und Fritz. Nur gut, daß der Chef das nicht mehr erleben mußte!

5. Sep. Waldi siezt Berti. Aha. Es geht zu Ende.

7. Sep. Eva Herman. Guten Abend, meine Damen und Herren. Berti ist zurückgetreten.

Fertige sofort eine Liste an. Was soll aus Berti werden? 1. Moderator beim RTL-Nachtjournal. 2. Praktikant im Weißen Haus. 3. Buchstabenumdreher beim Glücksrad. 4. Orthopädischer Strumpf 5. Kochputze bei Bohlen 6. Wirtschaftsminister.

9. Sep. Harald Schmidt zu Rita Süssmuth: „Danke, daß Sie hier waren und viel Glück für den 27.“ Nicke ihr nach und denke automatisch: Toitoitoi!

10. Sep. Alfred schreibt: „Ribbeck gilt als anerkannter Fachmann.“ Bin erleichtert.

26. Sep. In der Badewanne die berühmten drei Worte gelesen: „Bundeskanzler Gerhard Schröder.“ Geheult vor plötzlicher Rührung. (Anm. des Lektors; später hinzugefügt:) Du sentimentales, dummes Arschloch.

10. Okt. „Well done, anyway.“ Klingt wunderbar und berührt mich tief. Ringo Starr sagt es in „Wetten, daß?“ zu einem österreichischen Deppen, der alle Beatles- Songs an den ersten drei Worten erkennen wollte.

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11. Okt. Was hat Bärbel Schäfer von der Mutter gelernt? (Aus BamS): „An Träume zu glauben und sie auch zu verwirklichen.“ (Anm. d. Lektors: dick unterstrichen): Merken! (Und:) Siehe Sendung „Bärbel Schäfer“.

19. Okt. Endlich Antwort auf eine quälende Frage. Was dachte Michael, der steirische Jodler, als er die Steuerfachgehilfin Marianne 1973 kennenlernte? Er dachte (Anm. des Lektors: Quelle unleserlich): „Superfigur und trotzdem Holz vor der Hütt'n.“

7. Nov. Top of the Pops.

Jenny Elvers (Moderatorin): „Ich würde sagen, los geht's, Dariusz.“ Dariusz Michalczewski (Co- Moderator): „Okay, geht's los.“

18. Nov. Gelsenkirchen. Beim Training der DFB-Fußballer zugeschaut. Ah, gut: hochmoderne Hütchen. Höre Ulrich Stielike sagen: „Hopp, hopp, hopp, zwei gegen zwei.“ Das hört sich doch gar nicht schlecht an.

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10. Dez. Bei Kerner. Blüm (interessiert): „Wer ist Verona?“ (Lachen im Publikum.) Nadja ab del Farrag (cool): „Dieters Exfrau.“ (Falls es eines letzten Beweises bedurft hätte, daß diese Regierung längst abgehoben war von unseren wahren Themen!!!)

13. Dez. Zum millionsten Mal nennt Kohl seine Lebensmaxime („Giovanni, nimm dich nicht so ernst“). Dachte immer „Helmut“?

20. Dez. Top 10 nach Noten (BamS): 1. Matthäus. Ob das wohl richtig ist? Alfred fragen!

21. Dez. Zum millionsten Mal sagt Franz Beckenbauer den Satz: „Jo, ist denn heut' scho Weihnachten?“ Erschrecke furchtbar und rufe 110 an. Walter Jens sagt aber, er wolle zu Beckenbauer definitiv nichts mehr sagen.

21. Dez. Außer zwei Dingen. Erstens: „Verglichen mit Vogts ist er ein Riese.“ Zweitens: „Aber dazu gehört ja nicht viel.“

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Tja, so war das. So steht es jedenfalls in den Chinakladden. Ob sonst noch etwas war? Schwer zu sagen. Ich kenne diesen Sportreporter ja auch nur flüchtig. Er sagte mir, man behaupte ihm gegenüber zwar bestimmte, sozusagen „private“ Dinge. Er versichere aber noch einmal, er erinnere sich definitiv an nichts. Am 17. November habe sein Alfred geschrieben: „Steffi Graf hat uns gezeigt, daß es sich im Leben immer lohnt, nicht aufzugeben.“ Damals habe er sich entschlossen, nicht aufzugeben. Am 12. Dezember habe Otto Rehhagel gesagt: „Die große Herausforderung des Lebens ist der Umgang mit den anderen Menschen.“ Er läßt ausrichten, damit sei für heuer eigentlich alles gesagt.