■ Die erwachsene Nation * Kanzler Schröder reißt sich die europäische Tarnkappe von dort, wo der Kopf sein sollte, und schnallt sich den deutschen Helm ums Kinn
: Die erwachsene Nation

Alles, was nicht im Fernsehen ist, ist nicht wirklich, und alles, was wirklich ist, ist im Fernsehen. Im „Talk im Turm“ Anfang November sprach Kanzler Schröder zu den Deutschen des 3. Jahrtausends: „Das Deutschland, das wir repräsentieren, wird unbefangen sein, in einem guten Sinne vielleicht sogar deutscher sein.“ Deutsch, deutscher, am deutschesten. In seiner Regierungserklärung nannte er Deutschland eine „erwachsene Nation“, die sich „der Geschichte und ihrer Verantwortung“ stelle. Aber sie sei „bei aller Bereitschaft, sich damit auseinanderzusetzen, nach vorne orientiert“. Ja, ja, die Auschwitz- Keule gehört ins Museum. Zur Bronzeaxt und zum Spinnrad.

Das „Selbstbewußtsein einer erwachsenen Nation“ müsse „sich niemandem überlegen, aber auch niemandem unterlegen fühlen“. Und „auch unsere Nachbarn in Europa wissen, daß sie uns um so besser trauen können, je mehr wir Deutsche selber unserer Kraft vertrauen. Es waren in der Vergangenheit immer die gefährlichen Schieflagen im deutschen Selbstbewußtsein, die zu Extremismus und Unfrieden geführt haben.“

Der neue Starkdeutsche braucht Teuto-Ideologen, die ihm ein umfangreiches Repertoire an Begleitmusik liefern. Fürs erste hat er Martin Walser. Zu Walsers Friedenspreisrede sagte Schröder: „Ich denke, ein Schriftsteller muß das sagen dürfen, der Bundeskanzler nicht.“ Oh hilfreiche Hilfszeitwörter. Der Bundeskanzler will nicht dürfen müssen, aber er muß dürfen wollen. Martin Walser ist der Ideologe Gerhard Schröders, aber das ist nur der Anfang. Das deutscher gewordene Deutschland ist noch lang nicht am deutschesten.

Mir Österreicher muß da niemand was erzählen wollen. Der Österreicher ist das fehlende Zwischenglied zwischen dem Deutschen und dem Menschen. Der Österreicher ist genügend deutsch, um die Deutschen zu verstehen, und genügend Mensch, um sich vor den Deutschen zu fürchten.

Die größte Gemeinsamkeit zwischen den Österreichern und den Deutschen ist ihr Unterschied. Die österreichische Distanz zu den Deutschen vergrößerte sich stetig durch die historische Serie von Anschlüssen, deren jüngster gerade im Gang ist. Österreichs Europäisierung ist, genauer besehen, eine Germanisierung. Der Österreicher ist gut ausgerüstet, Europa vor den Deutschen zu warnen und die Deutschen vor sich selber.

Helmut Kohl war ja ein Gentleman, verglichen mit Schröder. Gerhard Schröder geigt auf. Er führt Europa ins 3. Jahrtausend, und der signifikant intelligentere Joschka Fischer wird ihn daran nicht hindern können. Soll er ihn überhaupt hindern wollen? Schon wieder die Hilfszeitwörter.

Mein Lieblingsdeutscher ist und bleibt Bismarck. Kohl war sozusagen Kohlmarck. Er baute den Deutschen eine gewaltige Statur in Europa, aber wie Bismarck wußte er: Deutschland kann die errungene Stellung nur halten, wenn es sich zurückhält, wenn es um Gottes willen nicht auf den europäischen Tisch drischt.

Die Vormacht in Europa hat Deutschland sowieso, wozu die starken Sprüche. Kohl hatte den Deutschen eine europäische Tarnkappe gestrickt. Der Mann war klug; viel klüger, als die linken Kohl-Verächter meinten. Schröder reißt sich die europäische Tarnkappe von dort, wo der Kopf sein sollte, und schnallt sich den deutschen Helm ums Kinn.

Seinerzeit folgte auf den klugen Fürsten Bismarck der täppische Kaiser Wilhelm II. als Selbstherrscher in der deutschen Außenpolitik. Jetzt folgt auf Kohl Schröder. Das Malheur kann nicht so groß werden wie zu Zeiten des Willi zwo, aber Glück wird er den Deutschen nicht unbedingt bringen. Neugroßdeutschland ist die Domina im europäischen Freudenhaus. Das ist wahr genug. Wozu jetzt auch noch den aufgezwirbelten Schnurrbart von Willi zwo? Domina mit Schnurrbart ist zuviel.

Dem Joschka Fischer schwant es schon. In seinem sehr gescheiten Interview in der Zeit vom 12. November stehen Sätze, die klingen wie Beschwörungen an seinen viel stärkeren Partner Schröder: „„Wer eine Führungsrolle für Deutschland reklamiert, kriegt sofort mehr Ärger als Führung. Instinktiv reagieren die Europäer anti-hegemonial. Dringend rate ich, an der bewährten Tradition der alten Bundesrepublik festzuhalten.“

Sehr seltsam. Da klingt der junge Fischer wie der alte Kohl. Tröste dich, Joschka. „Die Weltgeschichte macht uns alle zu ihren Narren“, schrieb Engels an Marx.

Ein Weiserer noch als Engels und Marx, ein altösterreichischer Prophet namens Johann Nepomuk Nestroy, bemerkte in einer seiner Komödien: „Das hat der Fortschritt so an sich, daß er viel kleiner ist, als er ausschaut.“ – Die Weltgeschichte schiebt die unlösbaren Probleme beiseite und vergnügt sich statt dessen mit neuen Problemen, die ebenso unlösbar sind.

Die Kupplerin Weltgeschichte legt das unlösbare Problem der immer höheren Arbeitslosigkeit zu Bett mit dem unlösbaren Problem der immer höheren Technologie und schaut, was aus beiden wird. Dazu singt, unter der doppelten Stabführung des dissonanten Duos Schröder-Lafontaine, der Chor der elf rosaroten Regierungschefs in der EU den Cantus firmus des alten Keynes von der Erschaffung von Arbeitsplätzen aus dem Nichts. Mehr ist nicht drin. Dem neuen Deutschen Schröder wird dennoch nicht fad werden. Er muß Deutschland aus dem Schuldbewußtsein ins Selbstbewußtsein führen. Auf einen solchen Führer warten die Deutschen schon lange.

Natürlich gibt es die Deutschen gar nicht, sie sind eine unzulässige Verallgemeinerung. Aber es gibt sie doch gerade genug, um das restliche Europa in Erschrecken oder Erstaunen zu versetzen. Die Geschichte der Deutschen ist eine Fieberkurve. Gerade noch waren sie so blödsinnig selbstbewußt, daß sie weitermarschieren wollten, bis alles in Scherben fällt. Und jetzt krümmen sie sich schon jahrzehntelang vor Schuldbewußtsein und denunzieren sich gegenseitig, wenn einer sich nicht genug krümmt.

Es ist noch ein Glück, daß es anständige Leute sind wie Schröder und Walser, die die Deutschen ins Selbstbewußtsein führen. Es hätte ja das Glück von viel weiter rechts kommen können. Von der Arbeitslosigkeit werden Schröder & Co. die Deutschen nicht befreien können, da ist der Kapitalismus stärker. So bleibt nur noch die Frage: Wenn die Deutschen selbstbewußt werden, aber arbeitslos bleiben, was machen die arbeitslosen Selbstbewußten bzw. selbstbewußten Arbeitslosen im neuen Jahrtausend? Das ist eine Frage, die an Revolution streift. Günther Nenning