Geht Bundeskanzler Gerhard Schröder heute abend zur Christmette? Wer weiß. Anders als die christlich-konservative Regierung Kohl erklärt Rot-Grün den Glauben zur Privatangelegenheit. Die Generation, die das Private zum Politischen machen wollte, verwandelt das Religiöse zum ausschließlich Persönlichen. Und das, obwohl die Regierenden gläubiger sind, als manche vermuten. Von Bernhard Pötter

Privatsache Weihnachten

Alle Jahre wieder kniet der Bundeskanzler am Heiligen Abend in der Kirchenbank. Nicht nur zur Weihnachtszeit demonstriert der Arbeitsminister, daß er sich am Altar zu Hause fühlt. Die Familienministerin singt die „Stille Nacht“ im Kirchenchor. Und auch der Finanzminister unterlegt die frommen Lieder im Chor seiner Pfarrei mit seinem sonoren Baß.

Das ist vorbei. Die Verbundenheit zum Jesukind, die das Kabinett Kohl zur Weihnacht 1997 bei einer Umfrage zu Protokoll gab, kommt bei den rot-grünen Nachfolgern nicht auf. Zur „deutschen Weihnacht mit Tannenbaum und Kirchgang“, wie es die Nachrichtenagentur AP nennt, bekennt sich nur noch Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD). Seine KollegInnen tauchen ab: Die MinisterInnen Müntefering, Schily, Trittin, Joschka Fischer, Wieczorek-Zeul, Däubler-Gmelin und Bulmahn verweigerten die Auskunft über ihre stille Nacht. Ob jemand Weihnachten feiere und in die Kirche gehe, sei „Privatsache“.

Nach dem Ausverkauf von Telekom und Lufthansa betreibt Rot- Grün eine Privatisierung der eigenen Art: Der staatstragend-christliche Anstrich, auf den bisher alle Bundesregierungen großen Wert gelegt haben, die öffentliche Antwort auf die Gretchenfrage „Wie hältst du's mit der Religion?“ wird unter der Regierung Schröder zur Privat-, ja fast zur Intimsphäre gerechnet. Die neue Generation im Kanzleramt verhält sich dem allgemeinen Trend gemäß: Die Volkskirchen werden als wichtige gesellschaftliche Institutionen anerkannt. Doch das öffentliche Bekenntnis zu ihnen ist nicht mehr gefragt.

Deutlichstes Zeichen dafür war der erste offizielle Akt der rot-grünen Bundesregierung: Als erster deutscher Bundeskanzler verweigerte der evangelische Christ Gerhard Schröder am 27. Oktober die christliche Eidesformel „So wahr mit Gott helfe“ am Ende seines Amtseides. Den Verzicht auf Hilfe von oben hatten bisher nur einzelne Minister gewagt. Das Kabinett Kohl dagegen erflehte am 17. November 1994 ohne Ausnahme übersinnliche Unterstützung für die Amtsgeschäfte. Rot-Grün dagegen zeigte sich gespalten: Auf Gott beriefen sich nur sieben der 15 Minister. Dagegen schworen Außenminister Fischer, Umweltminister Trittin, Arbeitsminister Riester, Innenminister Schily, Finanzminister Lafontaine, Bildungsministerin Bulmahn und Kanzleramtsminister Hombach ohne höheren Beistand. Trittin meinte: „Warum soll mir Gott helfen – der hat mir doch die ganzen Jahre über nicht geholfen.“

Das haben Minister bisher höchstens gedacht, aber niemals gesagt. Die Entfernung zwischen Kreuz und Kanzleramt wird größer: Bei der Neuordnung von Schröders Machtzentrale diskutieren die Organisatoren die Entmachtung des ehemaligen Referats für Kirchenfragen. Auf das Gratulationsschreiben zur Kanzlerwahl erhielten die katholischen und evangelischen Bischöfe nur noch Dankschreiben auf Formblättern. Ein Treffen des Kanzlers mit den Kirchen ist bislang noch nicht einmal angesetzt. Und schließlich hatten Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung für die Rolle der Kirchen in der Gesellschaft nur wenige magere Sätze übrig.

Der Chef selbst liebt die Distanz. Anders als sein Vorgänger Kohl, für den der Kontakt zu den Kirchen Chefsache war und der etwa bei der EKD-Synode im letzten Jahr erklärte, „aus dem Wort Gottes erwachsen Kraft und Hoffnung“, sieht sich Schröder „nicht als kirchlicher Mensch“. So schreibt er es in einem unveröffentlichten Brief an den Vorsitzenden der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Jürgen Schmude. In dem Schreiben, das ursprünglich in Schröders Buch „Briefe für ein modernes Deutschland“ erscheinen sollte, erklärt Schröder, er „respektiere die Kirchen sehr“: Ihre sozialen Dienste und die Hilfe für die „Armen und Ärmsten dieser Welt“ beeindrucke ihn. Auch sei er selbst mit „der Kirche oder dem Glauben nicht fertig“, denn er hoffe, auf die Frage nach dem „letzten Sinn auch mit Hilfe der Kirche eine Antwort zu finden“. Doch seine Einstellung zur Kirche, räumt Schröder ein, sei „sicher nicht das, was man von einem kirchentreuen Mitglied der Gemeinde erwartet. Aber es gibt ja auch Distanzierte.“

In den Kirchen selbst hält man sich mit einer Einschätzung von Rot-Grün vorsichtig zurück. „Abwarten und Abtasten“ sei das Motto, sagt der Sprecher der katholischen Bischofskonferenz, Rudolf Hammerschmidt: Erst müsse man sich kennenlernen. Sein Kollege von der EKD, Thomas Krüger, gesteht zu, bei der neuen Regierung könne man „weniger voraussetzen, daß sie bestimmte Sachen so mit der Muttermilch aufgesogen haben“ als das bei der Union der Fall war. Das sei auch eine Generationsfrage. Und wirklich: Die Generation, die das Private zum Politischen erklärte, verwandelt nun das Religiöse zum ausschließlich Persönlichen.

Mit sicherem Instinkt demonstriert dabei die Regierung Schröder den allgemeinen Trend: Die zunehmende Entfernung von den Volkskirchen, in denen zwar noch jeweils etwa 27 Millionen Gläubige Mitglieder sind, wo aber die Teilnahme am Gemeindeleben weiter schwindet – Kirche ja, aber nicht für mich. Nach einer Emnid-Umfrage gelten Pastoren nach Verwandten, Freunden und Psychologen als letzte Hilfe bei privaten Problemen. Nur 37 Prozent der Deutschen halten die Kirchen für wichtig bei der Vermittlung von Werten – abgeschlagen hinter der Polizei, den Parteien oder Greenpeace. 71 Prozent der Bevölkerung wünschen sich weniger politischen Einfluß der Kirchen.

Die „neue Mitte“ als Volk ohne Gott? Analysen der Bundestagswahl 1998 durch die Mainzer Forschungsgruppe Wahlen legen dieses Urteil nahe. Weiterhin ist die konfessionelle Bindung einer der stärksten Faktoren bei der Wahlentscheidung, deutlich nach Parteien geordnet: „Je stärker die Bindung an die Kirche, desto erfolgreicher ist die CDU/CSU“, fanden die Forscher heraus. Bei der SPD ist es andersherum: „Von den regelmäßigen Kirchgängern unter den Protestanten erhielt die SPD nur 28 Prozent. Bei den kirchenfernen Protestanten erhält die SPD dagegen jede zweite Stimme.“ Je größer also die Distanz zu den Kirchen, desto näher sind die WählerInnen an SPD und Grünen.

Dabei ist Rot-Grün überraschend gottesfürchtig. Im Bundestagspräsidium sitzen als VorzeigechristInnen der Katholik Wolfgang Thierse und die evangelische Theologin Antje Vollmer. Und auch in den Biographien der MinisterInnen spielt Religion eine tragende Rolle. So trat der Katholik Oskar Lafontaine in die SPD ein, weil er „in der CDU den Anspruch des Christentums nicht verwirklicht sah“. Sein Studium ließ er sich vom katholischen Cusanus-Werk finanzieren. Joschka Fischer beteuert, er werde aus der katholischen Kirche nicht austreten. Seine Amtskollegin Andrea Fischer schrieb im Buch „BeGRÜNdete Hoffnung“ ihrer Staatssekretärin Christa Nickels, wie die katholische Jugendarbeit ihr Menschenbild („vor Gott sind alle Menschen gleich geliebt“) geprägt hat. Franz Müntefering und Rudolf Scharping gelten als praktizierende Katholiken, Edelgard Buhlmahn sitzt in Hannover im Arbeitskreis „SPD und Kirchen“, Herta Däubler- Gmelin ist im SPD-Präsidium zuständig für den Kontakt zu den Kirchen.

Dennoch sind private Glaubensfragen „traditionell ein heikles Thema“, sagt der kirchenpolitische Referent beim SPD-Vorstand, Burkhard Reichert: „Darüber tauschen wir uns nicht aus.“ Er kenne Abgeordnete, die zwar durchaus der Kirche verbunden sind, ihre Konfession aber im Abgeordnetenhaus-Handbuch nicht angäben.

Ähnlich empfindet auch die Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek- Zeul. Im Munzinger-Archiv bekannter Persönlichkeiten wird der Leser detailliert über den politischen Werdegang der „roten Heidi“ informiert. Kein Wort findet sich zu ihrer Tätigkeit als Funktionsträgerin der evangelischen Kirche: Von 1988 bis 1991 war sie Mitglied der Landessynode der evangelischen Kirche von Hessen und Nassau.