Die Verteidigung der Langsamkeit

Mitten im hektischen Getriebe der Hauptstadt führen fünf Dominikanermönche ein Leben der Stille. In der größten religiösen Männer-WG Berlins üben sich die Patres in Armut, Gehorsam und Keuschheit und strafen das Bild der Weltfremdheit Lügen: 24 Stunden im Leben eines Klosters  ■ Von Philipp Geßler

Der schöne braune Zopf geht ihr bis zur Hüfte und baumelt hin und her, als sie die Treppe hinaufsteigt zum Gästetrakt des Dominikanerklosters in Moabit. „Mitten in der Stadt“, heißt es auf den Plakaten, die Vorträge im Kloster ankündigen. Die junge Frau, die an diesem Abend Dienst an der Pforte tut, übergibt den Schlüssel fürs Zimmer – die ersten Minuten von 24 Stunden in der größten religiösen Männer-WG der Hauptstadt. Hier ist es still.

Pater Bernhard, 39, wohlgenährt, Nickelbrille, ein blitzender Sticker im linken Ohr, ist es nicht. Er sitzt im bescheiden gemütlichen Empfangszimmmer der Gemeinde St. Paulus, die er mit zwei anderen Dominikanern betreut, und sprüht vor Energie. Im Jahr 1983, mit 24 Jahren, ist er in den Orden eingetreten. Davor habe er „nichts Gescheites“ gemacht, ein Christ in Opposition zur DDR, in der er aufwuchs: FDJ-Ausschluß, Hausdurchsuchungen, Stasi-Verhöre im Wendeherbst („Ich stand kurz vor dem Selbstmord“), Predigten in der Leipziger Nikolai-Kirche, zuletzt am 2. Oktober 1989.

Das Vorbild eines Dominikaners, die Faszination durch Messen und Zeremonien („Ich bin ein Symbolfreak“) und die „Angst vor dem Alleinsein“ haben ihn ins Kloster gebracht, erzählt Bernhard. Deshalb habe er in der 11. Klasse mit seiner Freundin „Schluß gemacht“ – mehr erzählen kann er nicht, er muß weg.

Etwas übermüdet steht Pater Bernhard am nächsten Morgen am Altar von St. Paulus, hinter sich im Chorgestühl die Mitbrüder in weißer Kutte mit schwarzem Überwurf und Kapuze, vor sich eine Handvoll unentwegte Gläubige, die es um 6.50 Uhr schon in die Messe treibt. Jeden Morgen um 7.30 Uhr beten die zehn Patres die „Laudes“, ein Wechselgebet – nur freitags kommt eine Messe dazu. Keine Orgel, die Männer wirken nüchtern oder konzentriert oder einfach nur schläfrig.

Leben kommt in die Gesichter erst beim gemeinsamen Frühstück im holzgetäfelten Speisesaal des Klosters, dem Refektorium. Es liegt wie die Zellen der Patres im neugotischen Trakt „nur für Kuttenträger“ (Pater Bernhard). Wenige reden, die meisten blättern in Zeitungen.

Pater Gero, 62 Jahre alt, weiße Haare, grauer Bart, hat wenig Zeit, er muß in sein Institut für Neurobiologie an der Freien Universität, wo er Suchtforschung betreibt. Eine Tätigkeit an der Universität sei im Orden „nichts Außergewöhnliches“, erklärt er, dafür stünden Namen wie Albertus Magnus. Wenn alles klappe, werde sein Chef eine Biotech-Firma aufbauen. Da werde er mitmachen und seine Forschungsergebnisse anwenden, sagt Gero stolz. Nach und nach stehen die Männer vom Frühstück auf, Bernhard bleibt am längsten. Welches der drei Gelübde, Armut, Gehorsam, Keuschheit, ihm am schwersten falle? „Im Frühling und Sommer die Keuschheit“, meint er, wer sagt, er habe da keine Probleme, solle „mal zum Arzt“. Das Gelübde der Armut berührt ihn weniger: „Ich halte den Begriff für verlogen.“ Er bedeute heute eine „solidarische Lebensweise“ ohne größeres persönliches Eigentum.

Doch nun hat auch Pater Bernhard keine Zeit mehr, er muß zu einer Beerdigung. In seiner Zelle schlüpft er schnell aus seinem Habit und in eine Lederjacke – die eigenen vier Wände, eher eine Studentenbude, zeugen von seiner Leidenschaft: Indianer. An den Wänden hängen Trommeln (die kleine heißt „Liebchen“, die große „Groß-Liebchen“) und Lederbeutel. Im Regal stehen Bücher über indianische Kunst, ein paar Kassetten von seiner Indianer-Band „The Rhinowland Singers“.

Sein eigenes Reich hat auch Pater Klaus, Sektenbeauftragter des Berliner Erzbischofs Sterzinsky. Die Wände seines Büros sind voller Bücher und Akten, eine Schatzkammer an Informationen über neue religiöse Gruppen. Er führt mit Stolz durch seine Sammlung, greift ins „Satanismus“-Regal: „Viel Scheiß dabei.“

Der Mann mit dem feinen Humor hat sein Büro in einem ehemaligen Laden, er schaut von seinem Schreibtisch durch ein Schaufenster direkt auf die Straße. Dem 54jährigen gefällt am Klosterleben, daß er sich um „äußere Dinge“ wie Geldangelegenheiten nicht kümmern müsse (obwohl er bei all seinen Vortragshonoraren ein „gemachter Mann“ wäre).

Es ist Mittag geworden, und wer da ist, geht in die Kapelle, einen kleinen Raum mit Altar, einem Heiligengemälde (Maria mit Kind) und einer Bank an der Wand. Es folgt die „Sext“, wieder ein Wechselgebet, eine ruhige Viertelstunde. Um 12.30 Uhr gibt es Mittagessen im Refektorium: eine Tomatensuppe, Fisch, Kartoffelpüree – alles bis auf den Joghurt zum Nachtisch von der Köchin zubereitet. Etwas ratlos liest Klaus mit knarziger Stimme aus dem Ersten Korintherbrief einen Bericht über den Tod von 23.000 Menschen vor.

Im Stockwerk darüber, im „Recreations“-Zimmer, der guten Stube, gibt es einen Kaffee. Ungebeten macht jemand den Fernseher an, es läuft das ZDF-Mittagsmagazin. Die Gespräche sind entspannt: Soll man im kleinen Teich im Innenhof ein Krokodil züchten, damit es Einbrecher auffrißt? Dann geht jeder wieder an seine Arbeit.

Pater Burkhard muß noch Krankenbesuche machen, er kümmert sich vor allem um ältere Menschen. Der 72jährige feingliedrige Mann ist seit 50 Jahren Priester, seit vier Jahren Prior, der Leiter des Hauses. Er hat eine Kniebank in der Zelle, geht oft eine halbe Stunde früher als die anderen in die Kapelle. Das gemeinsame Gebet, erklärt er, sei eine wesentliche Komponente des Zusammenlebens, denn die Ordensgemeinschaft „soll ja wie eine Familie sein“ – auch da suche man sich nicht „jeden bewußt aus“, ergänzt er leicht glucksend.

Doch jetzt müsse er weg, rauf auf seine rote Vespa, mit der er seit Jahrzehnten in Berlin fährt. Das sei günstig: keine Parkplatzsorgen.

Langsam beginnt es zu dämmern. Eine Standuhr tickt in den stillen, langen Gängen, fast alle sind außer Haus. Pater Thomas sitzt an seinem Schreibtisch und sortiert Papiere. Er bittet auf die „Loriot-Couch“, auf der man erstaunlich tief einsinkt, und schaltet die Oper aus seinem CD-Player aus. Thomas bietet einen Grappa an, schenkt ordentlich ein und zieht genießerisch an seiner Zigarette.

Pater Thomas ist Militärseelsorger sowie Dozent für Sprecherziehung und Rhetorik an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Stuttgart. Außerdem gibt er noch Rhetorikkurse für Wirtschaftsunternehmen und arbeitet an einer Promotion in Theologie.

Das Ordensleben sei „prozeßorientiert“, man müsse immer wieder sein „Jawort“ geben: „Sie sind nie fertig.“ Im heutigen „geschichtslosen Aktivismus“, der stets „Bewegung, Bewegung, Bewegung“ fordere, biete das Kloster Langsamkeit. Es sei „ein Ort, wo Sie Ruhe haben, damit Sie denken können“.

Dann hat auch Pater Thomas keine Zeit mehr, er muß noch arbeiten. Es ist dunkel geworden, die „Vesper“ fällt heute aus. Zurück zur Pforte, vorbei an einem Kalenderspruch: „Bindungen fesseln nicht nur, sie können auch Kraft und Sinn geben.“ Das Tor fällt ins Schloß, die Lichter Berlins wirken seltsam grell.