Die Hoffnung auf den Hauptgewinn

In Kreuzberg werden alle neuen Sozialhilfeempfänger zur Beschäftigungsagentur „Stellwerk“ geschickt. Dort machen sich Jobfahnder auf, um für ihre „Kunden“ passende Jobs zu finden. Potentielle Arbeitgeber werden mit kräftigen Lohnzuschüssen vom Arbeitsamt überzeugt  ■ Von Barbara Dribbusch

Warum Jennifer Wolschke zum Sozialfall wurde, ist auf den ersten Blick kaum zu verstehen. Die blondgelockte 30jährige ist gesund und alleinstehend. Sie hat früher mal bei Burger King als Kassiererin gejobbt, in der Kneipe Bier gezapft und im Büro Abrechnungen gemacht und Daten eingetippt. Doch heute reicht das nicht mehr: Wolschke kann sich nicht mehr selbst ernähren.

„Ohne Berufsabschluß bist du ein Nichts“, sagt die junge Kreuzbergerin. Die Zeiten sind vorbei, in denen Supermärkte noch ungelernte Kassiererinnen in Vollzeit einstellten. Vorbei auch die Zeiten, in denen ungelernte Bewerberinnen in Kneipen oder Büros einen Hilfsjob fanden, der zum Leben reichte. „Ohne Berufsabschluß kriegst du nur noch 620-Mark-Jobs oder Schwarzarbeit“, mußte Wolschke festgestellen, „ich brauch' aber was Richtiges.“ Als sie Sozialhilfe beantragte, wurde sie zu „Stellwerk“ geschickt.

Stellwerk ist eine neue, öffentlich geförderte Beschäftigungsagentur für Sozialhilfeempfänger in Kreuzberg. Seit Oktober muß jeder dort vorsprechen, der im Bezirk Stütze neu beantragt und als arbeitsfähig gilt. In der Vermittlungsstelle mit den hellen Büros werden die Sozialhilfeempfänger als „Kunden“ bezeichnet. Fünf Beraterinnen füllen für jeden Kunden einen Bewerbungsbogen aus. Fünf emsige sogenannte Akquisiteure klappern gleichzeitig in Berlin Betriebe ab, um für die Kunden passende Jobs zu suchen.

Stellwerk paßt in das neue politische Programm vieler Kommunen: Arbeit statt Stütze. In vielen Städten werden Sozialhilfeempfänger zu Beschäftigungsgesellschaften geschickt. Wer nicht mitmacht, dem wird die Stütze gekürzt. In Kreuzberg praktizieren die Vermittler noch die sanfte Version: Keiner wird gezwungen, einfach nur irgendeinen Job anzunehmen. Auch Wolschke nicht.

„Zuerst dachte ich, das ist nur Dresche, Druck und Drill“, erzählt die junge Frau, „aber jetzt kriege ich doch 'ne Chance in einem Job, der mir Spaß machen könnte.“ Ihre Chance heißt Bodo Nickel, ist 56 Jahre alt und Alleinunternehmer. Nickel betreibt in Tempelhof eine Hausverwaltung und eine kleine Fahrschule unter dem Motto: „Die dufte Atmosphäre spricht für uns“. „Ich brauche eine Allroundkraft fürs Büro“, sagt Nickel. Er will es mit Wolschke probieren.

Zuerst wollte Nickel über die Kirchengemeinde eine Bürokraft finden, eine Hausfrau, die für 620 Mark im Monat zehn Stunden in der Woche bei ihm gejobbt hätte, ohne Sozialversicherung. Doch dann erzählte ihm eine Nachbarin von Stellwerk und den Lohnkostenzuschüssen. Kurze Zeit später saß Stellwerk-Akquisiteurin Beate Winzer bei ihm im Wohnzimmer. Und schickte ihm dann Jennifer Wolschke vorbei.

Das stärkste Argument für Nickel ist der Lohnkostenzuschuß. Das Arbeitsamt zahlt ein Jahr lang monatlich 2.100 Mark für die Beschäftigung der Kreuzbergerin. 800 Mark legt Nickel selbst drauf, etwa 1.700 Mark netto wird die junge Frau herausbekommen. Das ist nicht viel, aber mehr als die 1.140 Mark Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die sie bis dahin erhielt. Für das Arbeitsamt ist der hohe Lohnkostenzuschuß eine Investition in Jennifer Wolschkes Zukunft, mit Risiko. Ob Nickel seine neue Mitarbeiterin auch nach einem Jahr weiterbeschäftigt, hänge von seiner Geschäftsentwicklung ab, gibt er zu: „Das ist ein Risiko, klar.“

Aber es ist auch eine kleine Chance, und darauf sind die Stellwerk-Akquisiteure angewiesen. Die Jobfahnder werben bei den Unternehmen vor Ort für „ihre“ Sozialhilfeempfänger. Und locken dabei mit Lohnkostenzuschüssen von bis zu 30.000 Mark im Jahr, um die Langzeiterwerbslosen wieder in selbstverdienten Lohn und Brot zu bringen. Die „Stellwerker“ vermitteln zwar auch in Beschäftigungsmaßnahmen und ABM. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag in einer Firma aber ist wie ein Hauptgewinn, auch für das Sozialamt.

Hauptgewinne sind selten. Rund 250 Sozialhilfeempfänger kamen in den ersten sechs Wochen zu Stellwerk. Acht wurden in dieser Zeit in kleine Firmen vermittelt, acht weitere begannen eine Beschäftigungsmaßnahme oder Weiterbildung. „Es ist ein mühsames Geschäft“, sagt Akquisiteurin Beate Winzer.

In der Stellwerk-Kartei stehen ehemalige Inhaber von Secondhandläden, jobsuchende Lektoren und neuerdings sogar Ärzte, die mit ihrer Praxis pleite gingen – eine neue „Kreuzberger Mischung“. Die meisten der Antragsteller aber haben keine Ausbildung. „Keinen Abschluß zu haben ist der gängigste Weg in die Sozialhilfe“, betont Stellwerk-Projektleiter Eckhard Schäfer. Wo die Jobsuchenden nicht mit Berufsabschlüssen punkten können, zählt am Ende nur die „Chemie“ zwischen BewerberInnen und künftigem Arbeitgeber.

Auch bei Nickel. „So ein Job ist Vertrauenssache“, meint der bärtige Unternehmer, der für seine neue Hilfskraft im Souterrain seines Hauses jetzt sogar ein Büro einrichten will. Wolschke schien ihm „irgendwie rustikal“. Büroerfahrung hat sie ja schon. Er hofft, „daß sie sich durchsetzen kann“.

„Die meisten wollen arbeiten“, berichtet Akquisiteurin Winzer über ihre Kunden. Nur zehn Prozent der Antragsteller auf Sozialhilfe erscheinen nicht zum Gespräch bei Stellwerk. Die Angst vor der Zukunft sitzt vielen im Genick. Auch wenn sie ein erträgliches Einkommen hätten, kombinierten sie die Sozialhilfe mit einem kleinen Schwarzjob. „Die Zeiten werden härter. Und mit 35 stellt mich erst recht keiner mehr ein“, sagt Wolschke.

Um an die Arbeitsplätze zu kommen, setzen die Stellwerk- Vermittler auf den Schneeballeffekt. Daß es hohe Zuschüsse für die Beschäftigung der Erwerbslosen gibt, soll sich herumsprechen. Winzer vermittelte einen Sozialhilfeempfänger als Hilfskraft an einen kurdischen Wäschereibesitzer, dessen Bruder sie einmal beim Asylverfahren half. Ein Reisebüro suchte einen türkischsprechenden Dolmetscher. Winzer schickte jemanden zum Vorstellungsgespräch vorbei. Ein Baubüro wünschte eine Bürohelferin. Eine junge Türkin wird dort anfangen. Nun wollen die Akquisiteure mit einem Kreuzberger „Betriebskataster“ ihre Jobsuche wie in einer Rasterfahndung verfeinern.

Mancher Job wird erst geschaffen, wenn die Unternehmer von den Lohnkostenzuschüssen hören. Oft seien die Zuschüsse aber nur ein Anreiz, so Winzer. Viel wichtiger sei, daß die Stellwerk-Leute eine Vorauswahl der Bewerber garantierten. „Die Mittelständler wollen keine Stellenanzeige aufgeben und dann unter 100 Leuten auswählen, das ist denen zu aufwendig“, sagt Winzer. Der Berufsabschluß ist diesen Chefs oft weniger wichtig als die persönliche Eignung. „Wir haben einen Gas-Wasser-Installateur, der kurz vor Abschluß die Lehre geschmissen hat. Aber er kann was.“ Ein Unternehmer, der über einen Branchenkollegen von Stellwerk hörte, will es jetzt mit dem Mann versuchen.

Luxusjobs sind selten im Angebot. „Es hapert manchmal schon an der Bezahlung“, erzählt die Akquisiteurin. Zwei Schneidereien beispielsweise suchen über Stellwerk Mitarbeiter. Mit dem niedrigen Monatslohn aber verdienten die neuen Kollegen kaum mehr, als sie heute Sozialhilfe kriegen. Das hemmt natürlich die Begeisterung für den neuen Job.

Die Mitarbeiter der Agentur wissen selbst gut genug, was Jobsuche und Zukunftsangst sind. „Auch wir bewegen uns auf dünnem Eis“, meint Winzer, 31 Jahre alt und Diplompolitologin. Sie sitzt wie alle ihre Kollegen von Stellwerk nur auf einer ABM-Stelle. Und die ist auf ein Jahr befristet.