Persona non gratissima

■ Lokalpolitik wäre toll – würden Frauen nicht immer dazwischen reden, denken Lokalpolitiker. Die Leeranerin Engeline Kramer kann das gut. Sie erzielt deshalb Spitzenwerte auf der männlichen Wutskala

Wenn zum höchsten Feiertag des Jahres in der ostfriesischen Kleinstadt Leer die Feuerwehrkapelle zum Marsch aufspielt, glänzen die Augen der Lokalpolitiker. Gleich hinter der großen Pauke versuchen sich die Honoratioren im Gleichschritt. Zur Eröffnung des beliebtesten ostfriesischen Volksfestes, dem Gallimarkt in Leer, gehts auf direktem Weg vom Rathaus zum Bieranstich. Nur eine darf wieder mal nicht mitspielen: Engeline Kramer (51). Als SPD-Genossin war sie schon persona non grata. Seit sie die SPD spaltete und ihr die absolute Mehrheit im Stadtrat raubte, ist sie persona non gratissima.

„Ich war die einzige Frau, die im Stadtrat den Mund aufmachte. Das mögen Männer nicht. Ich habe nie versucht, persönlichen Vorteil aus meiner politischen Arbeit zu ziehen, das macht mich für viele Männer suspekt. Und ich mag die politischen Rituale nicht, mit denen sich Männer in der Lokalpolitik wichtig machen.“ Dies sagt Engeline Kramer mit lächelndem Charme, als verteile sie Komplimente.

Ende der 80er Jahre hatte die örtliche SPD Kramer „eingekauft“. Die Partei brauchte was Soziales. „Ich habe immer Politik gemacht, aber nicht immer in einer Partei. Ich brauche meine Freiheit. Ich hatte einfach keine Lust mehr zu bejammern, daß sich so wenige Frauen engagieren.“ Die gelernte Kauffrau selbst arbeitete ehrenamtlich mit Behinderten, betreute psychisch Kranke und begann mit ihrem Mann ein Selbsthilfeprojekt in Afrika aufzubauen. „Ich bin wirklich gerne Hausfrau gewesen und habe für meine drei Kinder auch meinen Beruf aufgegeben. Aber irgendwann dachte ich, jetzt mußt zu wieder ran.“ Mit der Sozialfrau handelte sich die SPD allerdings auch ein Mundwerk ein, das wenig auf Etikette achtete: „Wenn Leute Stroh im Kopf haben, muß das doch gesagt werden. Und wenn Leute schmutzige Geschäfte machen, kann ich das nicht verniedlichen.“ Kramer sagt dies sanft und lächelt.

1992 wird sie stellvertretende Bürgermeisterin. „Eigentlich ist das kein entscheidender Posten. Aber gerade für viele Männer ist sowas ein Lebensziel.“ Selbst der Bürgermeister empfindet Kramer als Konkurrentin. Als sie gegen die lange Tradition verstößt und zum Nikolaus-Schwimmen keine Süßigkeiten, sondern Äpfel und Apfelsinen verteilt, wird sie ins Bürgermeisterbüro zitiert. Vorwurf: Sie hätte eigenständig ohne Absprache mit dem Chef gehandelt.

Politisch setzt sich Engeline Kramer immer häufiger von der Fraktion ab. Mitte der 90er Jahre ist sie die einzige exponierte Politikerin im ganzen Landkreis. Sie wird zur Zielscheibe nicht nur der Rechtsradikalen und der CDU, auch die eigenen Genossen beäugen sie mißtrauisch. Man flüstert, sie sei links. War die Partei bis dahin gewohnt, alle Entscheidungen der Stadtratfraktion abzunicken, bildet sich um Kramer eine innerparteiliche Opposition. Für Leer spektakuläre Bauprojekte wie eine Eissporthalle (100 Millionen Mark Investition) werden von ihr kritisiert; die Erschließung eines neuen Stadtteils (250 Millionen Mark Investition) möchte sie öffentlich verhandelt wissen. Sie setzt sich für Obdachlose ein und wird auch noch Ausländerbeauftragte des Landkreises. Sie sei heimtückisch, hinterlistig, rachsüchtig und nachtragend – das sind noch die „wohlwollenden“ Attribute, mit denen die Politikerin von ihrem männlichen Kollegen markiert wird. Der Führer einer rechten Wählergemeinschaft im Rat wirft ihr vor, illegal Wohnungen für russische Prostituierte besorgt zu haben. Das Gerücht, „sie schlafe mit Negern“, dringt gar in die Hirne ihrer Genossen. Die Wahl zur Landtagskandidatin wird ihr vermasselt. „Wenn sich Politker in der Öffentlichkeit besaufen und sich daneben benehmen, gilt das als männlich und schick. Kritik an Politikerinnen zielt von vornherein unter die Gürtellinie. Mir hat nur meine Familie leid getan“, kommentiert Kramer.

Als nach der letzten Kommunalwahl ein SPD-Genosse von Rechten als „Krebsgeschwür“ beschimpft wird, ohne daß sich die Partei schützend vor ihn stellt, gleicht die politische Situation in Leer einer defekten Hochspannungsleitung. Endgültig zum Kurzschluß kommt es, als der linke SPD Flügel nicht den konservativen Fraktionsvorsitzenden im Stadtrat zum Landtagskandidaten wählt und die Stadtratsfraktion nach den Kommunalwahlen keine Koalition mit den Grünen eingeht. Stattdessen bilden SPD, CDU und die rechte Wählergemeinschaft AWG eine Gruppe – eben jene Gemeinschaft, die bundesweit als antisemitisch, fremdenfeindlich und rassistich aufgefallen ist. CDU und Wählergemeinschaft fordern den Kopf von Kramer. Sie wird mit den rot-braunen Stimmen als stellvertretende Bürgermeisterin abgewählt.

„Keine hatte daran geglaubt, daß wir diesen Schritt wagen“, lächelt Kramer, als hätte sie ihren Gegnern ein mütterliches „Du, du, du, mach das nicht nochmal“ zugerufen. Tatsächlich trat sie aus Partei und Fraktion aus. Ihr folgten sieben weitere SPD-Stadträte und Ratsfrauen. Die SPD war praktisch halbiert. Immer stellten die Sozialdemokraten in Leer die stärkste Fraktion im Rat. Diese Zeiten sind nun vorbei. Die SPD ist politisch von der CDU und der rechten AWG abhängig. Für den mittlerweile hauptamtlich tätigen Bürgermeister Günther Boekhoff (SPD) kein Problem. Er versuchte, die Wählergemeinschaft aus dem rechten Sumpf herauszureden: „Da sind ganz ernstzunehmende Leute dabei.“

An Aufgaben fehlt es Engeline Kramer, jetzt neue Fraktionsvorsitzende der Unabhängigen sozialen Demokraten (UsD), nicht. „Ich möchte wieder mehr an der Basis arbeiten, und unsere Unterstützung für Afrika ist inzwischen ein großes Projekt.“ Eine Klinik ist gebaut, zwei Krankenstationen kommen noch, zwei Dorfapotheken sichern elementare Medikamentenverteilung, Brunnen in verschiedenen Dörfern müssen gebohrt werden ... Engeline Kramer gibt Kurse, afrikanisch Kochen, hält Diavorträge und organisiert Spendenaktionen. Sie ist im Vorstand einer Gesellschaft, die weltweiten Schüleraustausch organisiert. „Politik ist wirklich nicht alles. Ich finde, die aktive politische Betätigung müßte eh auf 15 Jahre beschränkt werden.“

Was sagt eigentlich ihr Mann zu den Aktivitäten? „Ich habe mir mal den Spaß gemacht, bei einem Bewerbungsgespräch den männlichen Bewerber zu fragen, wie er die Arbeit mit der Versorgung seiner zwei Kinder vereinbart. Sie hätten mal die Wut der Männer in der Bewerbungskommission erleben sollen. Übrigens bewarb sich neben dem Mann auch eine Frau um die Stelle. Bei der hatte die Kommission Bedenken, daß sie Beruf und Familie nicht vereinbaren könne.“

Thomas Schumacher