Dreißig Dollar für den Doorman

Überleben mit Calvin Klein oder Alles wird gut. Heute feiert der Factory-Star Joe Dallesandro seinen 50. Geburtstag. Sein Erfolg war von größerer Dauer als die berühmten fünfzehn Minuten, die Godfather Andy Warhol dem Star zubilligte, der jedermann werden kann  ■ Von Oliver Held

Bei allen großen Sexsymbolen des Kinos endet der Nachname immer auf o – Valentino, Harlow, Brando, Monroe, Bardot, Dallesandro. Paul Morrissey

1970 kommt ein 21 Jahre junger Italoamerikaner erstmals nach Deutschland. Joe Dallesandro, der neue Superstar aus der New Yorker Warhol-Factory, stellt auf dem Münchener Filmfestival den Film „Flesh“ vor. „Flesh“, gedreht an vier Wochenenden, kostete gerade mal 40.000 Dollar. Eingeladen hat der Constantin-Verleih, der „Flesh“ in Deutschland groß herausbringen und mit dem ungelogenen Slogan „So etwas haben Sie im Kino noch nie gesehen“ zu einem der größten Kinohits des Jahres 1970 machen wird. Das Szenenfoto aus dem Film, auf dem ein nackter Joe Dallesandro sein nacktes Baby in den Armen hält, wird zur vielleicht wichtigsten Ikone neuer Männlichkeit jener Jahre und zum beliebtesten Postermotiv neben Che Guevaras Schattenriß und Frank Zappas Klositzung.

„Flesh“ ist ein Film über einen New Yorker Boy, der von seiner Frau auf den Strich geschickt wird. Er soll das Geld ranschaffen, das ihre Freundin für eine Abtreibung benötigt. – Eine Story, wie aus dem Leben gegriffen. Und gar nicht allzuweit entfernt von Joes eigener Lebensgeschichte.

Geboren wird Joe D'Allesandro Sylvester 1948 als Kind eines Navy- Angestellten und einer 14jährigen. Bereits vier Jahre später sitzt Joes Mutter wegen Autoschmuggels im Knast. Joe wandert kurzfristig ins Heim, wächst dann bei irisch-katholischen Pflegeeltern auf. Mit 15 wird Joe am Steuer eines geklauten Wagens erwischt und nach einer wilden Verfolgungsjagd quer durch Brooklyn von der Polizei gestellt. Nachdem er seine Schußverletzung, die er bei der Aktion davongetragen hat, auskuriert hat, muß Joe in den Jugendknast und wird zum Bäumefällen in ein Lager nahe der kanadischen Grenze verschickt. Joe haut ab und schlägt sich via Mexiko bis nach L.A. durch. Dort zieht er sich erstmals vor einer Kamera aus und modelt für ein schwules Mail-order-Magazin. Die Polizei greift den Minderjährigen schließlich auf und schafft ihn zum leiblichen Vater nach New York zurück. Dort kommt der Ausreißer gerade recht. Die Tochter der Freundin des Vaters ist ungewollt schwanger. Mit Joe bekommt sie einen Bräutigam, das werdende Kind einen Vater, und Joe muß als frischgebackenes Familienoberhaupt nicht mehr ins Gefängnislager zurück.

1970, zweieinhalb Jahre später, ist Joe bereits ein Kinostar. Genau betrachtet ist er das nicht. Denn er verdient gerade mal 30 Dollar in der Woche, sein Salär als Doorman und „Best boy“ in den Büroräumen der „Factory“. Doch immerhin, sein Erfolg beim Publikum ist von weitaus größerer Dauer als jene 15 Minuten, in denen nach der berühmten Definition seines Ziehvaters und Produzenten Andy Warhol künftig jeder Mensch zum Star werden kann. „Trash“, der Nachfolgefilm, in dem Joe Dallesandro einen impotenten Junkie spielt, wird noch erfolgreicher als der Erstling „Flesh“. 3,6 Millionen Deutsche und weltweit über zehn Millionen Menschen strömen 1971 in die Lichtspielhäuser, um den ersten männlichen Nacktstar des Kinos auf der Leinwand zu sehen.

Mitte der 70er Jahre dreht die Warhol-Clique in Europa. Ein Ruf nach Hollywood ist trotz des kommerziellen Erfolges der Factory- Filme ausgeblieben. Noch ist der New Yorker Underground zu schwul für die Studiobosse in Kalifornien. In Europa sieht man das anders. Im römischen Cinecitta entstehen zwei Produktionen unter der Obhut des Sophia-Loren- Ehemanns Carlo Ponti. In „Andy Warhol's Frankenstein“ und „Andy Warhols's Dracula“ unter der Regie von Paul Morrissey gibt der Deutsche Udo Kier die Titelrollen – und Joe mimt als Butler oder Gärtner den potenzstarken Ficker im Dienst.

In Italien verläßt Joe die Warhol-Clique endgültig, die ihm zwar eine einschlägige Karriere, aber nie eine nennenswerte Gewinnbeteiligung beschert hatte. Von 1974 bis 1980 lebt er in Rom und wird zum Filmpartner nahezu aller europäischen Erotikstars seiner Zeit. Mit Jane Birkin dreht Joe Dallesandro den Serge-Gainsbourg- Klassiker „Je t'aime“, mit Andrea Ferreol die deutsch-italienische Coproduktion „Das nimmersatte Weib“; mit der holländischen Emmanuelle-Darstellerin Sylvia Kristel Walerian Borowczyks „La Marge“ und mit der spätestens seit dem „Letzten Tango“ zu seinem weiblichen Skandalpendant geratenen Maria Schneider den Jacques-Rivette-Film „Merry go round“. Seine Versuche, einen Imagewechsel vom Sexprotz zum Actionhero zu vollziehen und sich als Gangsterdarsteller in hartgesottenen Italokrimis zu profilieren, haben freilich eher mäßigen Erfolg. Filme mit deutschen Verleihtiteln wie „Die wilde Meute“, „Todesrallye“ oder „Harley Riders – sie kannten kein Erbarmen“ verstauben heute nur noch als Ausschußware in spezialisierten Videotheken.

1980 neigt sich Joe Dallesandros europäische Karriere endgültig dem Ende zu. Joe ist angeschlagen. Seine langjährige Liason mit der Schauspielerin Stefania Casini zerbricht. Bob, Joes jüngerer einziger Bruder, der lange Zeit als Warhols Chauffeur gearbeitet hatte, begeht in New York Selbstmord. Und Joes zweite Ehefrau Terry – Mutter seines einzigen Sohnes Joe jr. – hat im fernen Amerika längst die Scheidung eingereicht. Alkohol- und drogenabhängig kehrt Joe Dallesandro in die USA zurück. Seine europäischen Filme sind in den Vereinigten Staaten so gut wie unbekannt. Verarmt und vergessen sucht Joe Kontakt zu seiner leiblichen Mutter und haust mit ihr über ein Jahr lang – von der Wohlfahrt lebend – in einem Wohnmobil in Seattle. Erst Anfang 1982 geht Joe Dallesandro nach Los Angeles, um in Hollywood einen Neuanfang zu starten. Er fängt ganz unten an. Erst mit einer Entziehungskur, danach als Taxifahrer.

Dallesandro muß den Spott seiner alten Kumpane ertragen: Lou Reed, der den jungen Dallesandro einst in einer Strophe von „Walk on the Wild Side“ als coolsten aller Hustler besungen hatte, macht sich nun in Konzerten über den „Idioten Joe“ lustig, der seine Karriere in Italien gegen den Baum gefahren hat. Und Warhol diktiert in seine „Diaries“ gar den Ratschlag, Joe solle sich – statt Taxi zu fahren – doch besser auf seinen großen Schwanz besinnen und sich von einer reichen Frau aushalten lassen.

Seinen Neueinstieg ins Filmbusiness verdankt Joe dem Regisseur Francis Ford Coppola, der ihm 1983 eine Minirolle in seinem „Cotton Club“ besorgt. Von nun an geht es für Dallesandro wenigstens finanziell wieder ein bißchen aufwärts. TV-Gastrollen in „Miami Vice“ und „Matlock“ folgen ebenso wie kleinere Filmparts, etwa an der Seite von Whoopie Goldberg, Johnny Depp, Telly Savallas oder Drew Barrymore. Trotzdem bleibt Joe Dallesandro in Hollywood eine kleine Nummer. Einer, der sich eher mühsam denn glanzvoll durchs Leben schlägt.

Die größte Verbreitung seines aktuellen 90er-Jahre-Konterfeis verdankt der späte Joe Dallesandro bezeichnenderweise keinem Hollywoodfilm, sondern der Werbung. Nachdem Joe in billigen B-Movies gleich mehrfach mit Auftritten als fieser alter Sack geglänzt hatte, der mit Vorliebe stupsnasige amerikanische Teenagerinnen vergewaltigt, steht das Sexsymbol von einst in einer Jeansreklame von Calvin Klein neben der magersüchtigen Kate Moss und präsentiert zum Werbeslogan „Just be.“ sein Markenzeichen: das „Little Joe“-Tattoo, das sich Joe Dallesandro bereits als 16jähriger Autoknacker während seines Aufenthalts im Jugendknast in den linken Oberarm gestochen hatte.

Trotz alledem herrscht für Joe augenblicklich kein Grund, Trübsal zu blasen. Im Gegenteil: Vieles deutet darauf hin, daß die 90er Jahre besser für ihn enden werden, als sie angefangen haben. Der Totalausverkauf seines Mythos, der sich 1992 in einem zweifelhaften Nacktauftritt in einem von „Playboy-TV“ produzierten „Night Affairs“-Programm abzuzeichnen begann, scheint gestoppt. Mit etwas Glück werden wir Joe in Zukunft wieder auf etwas höherem Niveau erleben. Erst vor einigen Monaten stand Joe für einen Film des Finnen Mika Kaurismäki vor der Kamera. Ebenfalls bereits absolviert ist ein Auftritt im neuen Streifen von Steven Soderbergh. Und wer weiß, vielleicht muß das o im Nachnamen nicht mehr nur das Sexsymbol bezeichnen.