Erhabenheits-Recycling

Kommunitarismus mit apokalyptischem Antlitz: Die Horrorromane von Stephen King erzählen von der Wiederkehr der Zukurzgekommenen. Das Böse erscheint amerikanisch handfest als fleischgewordene Dämonen und ist nur mit Gewalt zu besiegen  ■ Von Hans Richard Brittnacher

Nach einem zählebigen Vorurteil handelt es sich bei der phantastischen Literatur um ein Genre, in dem sich erzählerischer Mutwille und Einbildungskraft über die Ansprüche von Logik und Realismus hinwegsetzen. Nichts könnte falscher sein. Wohl in keinem anderen literarischen Genre hat die Kunst realistischen Erzählens die Turbulenzen der ästhetischen Moderne so unbeschadet überstanden. Coleridge hat das Lesen einmal als „the willing suspension of disbelief“ bestimmt. Will ein phantastischer Autor die Bereitschaft seiner Leser, den Zweifel zeitweilig außer Kraft zu setzen, nicht allzusehr strapazieren, wird er das Unglaubliche mit einem Höchstmaß an Realismus verklammern.

Wer sich die Lektüre eines Romans von Stephen King zumutet – jährlich legt er ein bis zwei dickleibige Bücher vor, selten unter 800 Seiten –, wird den außerordentlichen Realismus dieses Autors bestätigen. Denn King nimmt sich unendlich viel Zeit, seine Leser mit dem Personal seiner Romane vertraut zu machen. Doch der Schluß von der Mitteilsamkeit des Autors auf einen Mangel an erzählerischer und formaler Disziplin übersieht den kühlen Umgang Kings mit der Ökonomie des Schreckens: Der Horror setzt die Idylle voraus, je ausführlicher diese vorgestellt wird, desto brutaler kann jener wirken.

Über Stephen King zu schreiben heißt deshalb, über eine maßlose Art von Lektüre zu schreiben. Ihn zu lesen heißt, auf erworbene Distanzierungstechniken der ästhetischen Erfahrung zu verzichten und sich wieder einer elementaren Form des Lesens, dem Schmökern, zu überlassen. Für seinen Fleiß wird der Leser mit der einzigartigen Evokation eines Schreckens entschädigt, der im Herzen des amerikanischen Alltags lauert. Anders als in der filmischen Inszenierung des Urban Horror, in dem die Stadt zum Dschungel wird und grauenhaft entstellte Mutanten in U-Bahn- Schächten lauern, wird bei King die friedliche Welt einer Kleinstadt mit Vorgärten und Barbecues zum Schauplatz des Kampfes mit fleischgewordenen Dämonen.

In einem ausführlichen Essay hat Burkhard Müller seine Leseerfahrungen mit King beschrieben und die Romane des Autors als „Nachrichten vom Innern des Todes“ gedeutet: Der Tod, den wir verdrängen, den unsere Religion auf Distanz hält, den wir sterilisieren und verstecken, ertrotzt sich in Kings Romanen wieder umfassende Geltung. Vom Tod handelt auch „Sara“, der neueste Roman Kings. Er erzählt von der Trauerarbeit eines Schriftstellers, der den Verlust seiner Frau nicht verwinden kann. Wie geschmolzenes Blei hält die Trauer ihn in seiner Apathie gefangen; er fühlt die Schuld des Überlebenden und die Wut des Alleingelassenen, bis er den Kampf mit dem Tod aufnimmt.

Vom Tod erzählen auch andere Autoren der phantastischen Literatur. Schon im 18. Jahrhundert hat Burkes „Ästhetik des Erhabenen“ ihn als ultimativen Schrecken empfohlen. Aber die Krudität seiner ästhetischen Inszenierung verleiht King seine besondere Bedeutung in der zeitgenössischen Phantastik. Bei ihm erscheint der Tod nicht als ein ätherischer Botschafter aus dem Jenseits, sondern als ein Lazarus, der schon riecht, als verwesender Kadaver. Der obligate Dank, den Autoren im Vorwort für fachliche Beratung abzustatten pflegen, geht bei Stephen King mit gutem Grund auch an Leichenbestatter und Einbalsamierer, die ihm behilflich sind, seine ästhetischen Skandale ohne sachliche Fehler zu inszenieren.

Mit seinem biologischen Horror hat King dem Begriff „American Gothic“ eine neue Dimension erschrieben. Denn der Schrecken, mit dem seine Protagonisten sich auseinanderzusetzen haben, ist im Unterschied zu dem der europäischen Phantastik handfest, ein deklassiertes Böses. Es tritt nicht als Parusie einer ungreifbaren dämonischen Energie auf, sondern als ein Wesen von massiver physischer Präsenz. Das Böse in der europäischen Phantastik hatte seinen Platz im Pendelschlag zwischen der Möglichkeit zur Ketzerei und dem Abgrund des Begehrens. Die amerikanische Phantastik hat das metaphyische Surplus der europäischen Phantastik weitgehend nivelliert, die aristokratischen Vampire und gräflichen Wüstlinge durch Ungeheuer ersetzt, die in Größe und Konsistenz neue Rekordmarken des Widerwärtigen setzen.

Müllers Feststellung, in Kings Werk reklamiere das Böse überlegene kosmische Gewalt, während sich das Gute mit bescheidenem menschlichen Format zufriedengeben müsse, geht deshalb in doppelter Hinsicht an der Eigentümlichkeit von Kings Horror vorbei. Denn in dem Maße, in dem die Monster Kings bei ihrer buchstäblichen Fleischwerdung an dämonischer Aura verlieren, wachsen die Protagonisten seiner Romane über sich hinaus und erobern sich, was ihre Gegenspieler eingebüßt haben: einen Anteil an spiritueller Kraft. Kings Helden demonstrieren das erfolgreiche Recycling des Erhabenen: Angesichts der Drohung einer überwältigenden natürlichen Kraft entdecken sie in sich selbst eine Instanz unantastbarer Moral – nicht das Sittengesetz des deutschen Idealismus, aber die Philosophie Thoreaus und Emersons. Begriffe wie Wildnis, Grenze, Unschuld und „american adam“ sind die festen Bestandteile des mythopoetischen Verfahrens der Neuen Welt, das sich auch den eher metaphysisch inspirierten literarturhistorischen Bestand der Alten Welt assimiliert hat.

Nahezu alle großen Themen der europäischen Phantastik hat Stephen King den Versuchsbedingungen der amerikanischen Lebenswirklichkeit ausgesetzt. „Brennen muß Salem“ versteht sich als amerikanische Reverenz vor dem europäischen Motiv des Vampirismus. Aber Barlow – Kings Dracula – erscheint nicht als charismatischer Sadist, sondern als politischer Führer, der die Bewohner einer Kleinstadt in eine gespenstische Parade willenloser Mitläufer verwandelt, bis der Held des Romans mit einer gewaltigen Feuersbrunst dem Treiben Einhalt gebietet. Die gleiche Konfiguration von paranoider Angst vor Infektion und die Sehnsucht nach einem gewalttätigen Befreiungsschlag bestimmt auch die Handlung von „Das Monstrum“. Auch hier ergreift die Energie toter Außerirdischer schleichend Besitz von den Bewohnern einer Kleinstadt, bis der Held sich opfert und dem Spuk ein Ende bereitet.

Die archaischen Vorstellungen von sozialer Durchseuchung und vom reinigenden Feuer verbinden sich mit dem Plädoyer für den heldenhaften einzelnen, der sich weigert, der regressiven Verlockung zum Untertauchen in der Masse nachzugeben, zu einem Loblied auf das Modell amerikanischer Individualität. Auch der Protagonist aus „Das Attentat“ setzt Leib und Leben daran, einen Präsidentschaftskandidaten zu töten, der den dritten Weltkrieg anzuzetteln beabsichtigt. In solchen Konstruktionen lassen sich sowohl die Idee einer allgegenwärtigen Konspiration, die sentimentale Berufung auf das Selbsthelfertum der Pionierzeit und das Pathos des Opfers als universale Deutungsmuster des amerikanischen Selbstverständnisses erkennen. Die konservativen Werte des amerikanischen Mittelstandes und die Integrität der Familie werden als moralische Orientierung aktiviert, denen Schußwaffen und Gewalt zur sozialen Geltung verhelfen. Kings Horror kommt nicht aus Hollywood, er geizt mit Happy-Ends, aber ist doch amerikanisch genug, seine Helden vor ihrem Abgang gehörigen Kampfgeist zeigen zu lassen.

Mit seinen Werken liefert King einen so kritischen wie naiven Kommentar zu den Modernisierungsschäden der 80er und 90er Jahre. Einerseits thematisiert er politische Skandale wie geheimgehaltene medizinische Versuche, Forschungen zur biologischen Kriegsführung und die ökologische Verseuchung des Landes und vertraut dabei auf den in der populären Kultur Amerikas omnipräsenten Glauben an Komplotte regierungsnaher Einrichtungen. Andererseits appelliert er an das moralische Gewissen und beschreibt Armut, Obdachlosigkeit und die Brutalisierung sozialer Verhältnisse als Folgeerscheinungen einer Politik, die das von der Verfassung garantierte „pursuit of happiness“ nicht länger respektiert.

Gleichzeitig liefert King ein Szenario lehrreicher und gewalttätiger Bestrafung, in dem die Opfer es ihren Peinigern heimzahlen dürfen. Seine kindlichen Helden und Heldinnen legen die Welt kurzerhand in Schutt und Asche oder bauen auf den Trümmern der untergegangenen Welt ein neues, gerechteres soziales System auf, in dem endlich auch Behinderte und Benachteiligte das Sagen haben. In „Das letzte Gefecht“ bilden ein geistig Zurückgebliebener und ein Gehörloser ein fast unschlagbares Team, im neuesten Roman schließen sich der geplagte Schriftsteller, eine unschuldig in wirtschaftliche Not geratene junge Mutter und deren zweijährige Tochter zu einer Phalanx gegen die Mächte der Finsternis zusammen. In Kings korrigiertem Universum regiert die Allianz der Schutzlosen, deren Unschuld zur Stärke wird – der Kinderkreuzzug ist die heimliche Obsession im Werk des Stephen King. Es ist also nicht allein der Respekt vor den Regeln der Political Correctness, der die Besetzung der zentralen Rollen in Kings Romanen durch ethnische Minderheiten und Behinderte erklärt.

Sowohl in den Sympathien des Autors für einzelne seiner Figuren wie in den apokalyptischen Strafszenarien wird die Vergeltungsphantasie als das strukturierende ästhetische Prinzip Kings deutlich. Endlich darf auch der bislang von aller Macht ausgeschlossene Underdog über Leben und Tod entscheiden. In solchen Konstruktionen zeigen Kings Romane eine zumindest bigotte, wenn nicht aporetische Struktur: Sie geben sich als Ermahnung zur Toleranz aus, aber drohen sicherheitshalber bei Nichtbefolgung grausame Strafen an. Indem die Handlungsführung von Kings Romanen die Entwicklung von Opfern zu Tätern distanzlos schildert, affirmiert sie Gewalt als Mittel der Lösung von Konflikten, statt die sozialen Voraussetzungen der Gewalt zu analysieren. In der Drohung, daß die Zukurzgekommenen wiederkehren, um Rache zu üben, zeigt der Kommunitarismus sein apokalyptisches Antlitz.

Stephen King: „Sara“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber. Heyne Verlag, München, 49,80 DM

Burkhard Müller: „Stephen King. Das Wunder, das Böse, der Tod“. Klett Cotta Verlag, Stuttgart 1998, 22,80 DM