„Warum schossen sie Weihnachten auf uns?“

Die Kosovo-Albaner beerdigen ihre Toten und verstehen die serbischen Nachbarn nicht mehr  ■ Aus der Region um Podujevo Thomas Schmid

Als im vergangenen Sommer die serbischen Streitkräfte in einer dreimonatigen Großoffensive gegen die UCK-Guerilla an die 300.000 Albaner in die Flucht trieben und Dutzende von Dörfern niederbrannten, war Podujevo eine Oase des Friedens. Das Umland um das 30 Kilometer nördlich von Priština gelegene Städtchen gehörte neben der Hauptstadt selbst zu den wenigen Gebieten des Kosovo, die vom Krieg verschont blieben. Doch heute steht ein halbes Dutzend serbischer Schützenwagen an den Kreuzungen des Ortes. Aus den gepanzerten Fahrzeugen richten Polizisten ihre Maschinengewehre in die Straßen. Nach Einbruch der Dunkelheit ist keine Menschenseele mehr anzutreffen. Kein Restaurant hat geöffnet und keine Bar. Alles zu. Die Stadt ist besetzt.

Zur UCK sind es keine zehn Minuten zu Fuß. Und kein serbischer Polizist hindert die Stadtbewohner, auf die andere Seite der unsichtbaren Front zu gehen. Doch nur wenige trauen sich. Aber es gibt keinen Checkpoint und keine Personenkontrolle. Die kommt erst wenige hundert Meter vom Stadtrand entfernt und nur für Ausländer. Ein Mann mit Kalaschnikow und schwarzer Strumpfmaske verlangt nach der Akkreditierung. Die besteht aus der eigenen Visitenkarte, auf deren Rückseite einige albanische Worte stehen und die Unterschrift von Adem Demaci, dem offiziellen Sprecher der UCK, der sein Büro in der Hauptstadt Priština hat.

Ihren regionalen Kommandostab hat die UCK in Lapastica. Das Dörfchen liegt fünf Kilometer von Podujevo entfernt. Sämtliche Häuser stehen leer. Nach dem weihnachtlichen Artillerieangriff der Serben sind die 3.000 Bewohner geflüchtet. Nur Soldaten und Polizisten der Guerilla, die einen im etwas plumpen Tarnanzug, die andern im schicken schwarzen Dreß, bevölkern den Ort. Einige Autos tragen ein gelbes Nummernschild mit den Buchstaben UCK.

Vor dem Haus, in dem sich das Kommando einquartiert hat, brummt ein Generator. Seit vier Tagen gibt es keine Elektrizität mehr im Dorf. Der Presseoffizier, der sich als Luli vorstellt, versteht nicht, warum die ausländischen Medien so viel Aufhebens um einen toten Serben machen. Am zweiten Weihnachtstag war im Nachbarort der Rentner Milovan Radojević vor seiner Haustür erschossen worden: ermordet, behaupten die Serben – getötet, weil er auf eine UCK-Truppe geschossen hatte und sich nicht hatte ergeben wollen, so die Albaner.

Vor der kleinen Moschee sind zwei Dutzend albanische Bauern eingetroffen. Sie sind zurückgekommen, um ihre Toten zu beerdigen. Sadik Potera ist zwei Stunden durch den Schnee gestapft, um seinem Bruder Ajvaz das letzte Geleit zu geben. Er fiel einem Heckenschützen zum Opfer. „50 Meter von seinem Haus hat es ihn erwischt“, sagt Sadik. Jetzt liegt der tote Bauer in der Moschee in einem billigen offenen Sarg, in ein weißes Tuch gewickelt, das nur die blaugefleckten Füße freigibt. Neben ihm liegt eine weitere verhüllte Leiche. Der dritte Tote liegt in Kampfuniform da, ein Arm ausgestreckt, beide Knie angewinkelt. Er hängt halb aus dem Sarg, weil er bei der Kälte von minus 20 Grad in dieser Position erstarrt ist. Zwei Männer heben ihn hoch, legen ihn auf die Ladefläche eines Kleinlasters und fahren davon.

Inzwischen sind an die 200 Männer vor der Moschee eingetroffen, die Hälfte von ihnen tragen eine Kalaschnikow. Verwandte heben die beiden übriggebliebenen Särge auf ihre Schultern und tragen sie zum nahen Friedhof. Vor den bereits ausgehobenen Gräbern halten vier UCK-Kämpfer in schwarzer Uniform mit aufgepflanztem Gewehr die Ehrenwache. Ein martialisches Bild. Dann ruft der Hodscha dreimal Allah an, stimmt das Klagelied an, und nach einem kurzen Gebet werden Ajvaz Potera und Isa Havalli aus dem Sarg genommen und, nur in die weißen Tücher gehüllt, in die feuchten Gruben versenkt.

Schweigend schütten ein Dutzend Männer die ausgegrabene Erde über die Leichen. Die Trauergemeinde – alles Männer, ihnen steht es hier traditionell zu, die Toten zu bestatten – geht auseinander. Die leeren Särge werden zur Moschee zurückgebracht. Man wird sie noch brauchen.

Auch im nahen Obrandza, wo der serbische Rentner getötet wurde, sind alle Einwohner geflüchtet. Doch auch hier sind einige zurückgekommen. Um die Kühe zu melken. Alles Männer, außer Hanusah Jashari, die in farbigen Pluderhosen vor ihrem Haus steht. „Meine Kuh läßt nur mich ran“, behauptet sie. Ihr Mann Beqir, der seit dreißig Jahren als Maurer in München arbeitet und seine Familie jedes Weihnachten besucht, war mitten in die militärischen Auseinandersetzungen geraten. Auch in den Sommerferien weilte er hier bei seiner Familie.

Während der ganze Kosovo in Flammen stand, hätten sie sich mit den wenigen Serben im Dorf immer gut verstanden, sagt er. „Wir sind zusammen aufgewachsen, wir haben sie oft eingeladen, sie haben unser Brot gegessen, ich kann nicht verstehen, weshalb sie an Weihnachten plötzlich auf uns schossen.“ Von den zehn serbischen Familien im Dorf sei zwar die Hälfte im Verlauf des Jahres weggezogen, behauptet ein alter Mann, der seinen Namen nicht nennen mag, aber die andere Hälfte habe von der Polizei in Podujevo kurz vor Weihnachten Waffen erhalten.

Am zweiten Weihnachtstag fielen nicht nur Granaten, die in Podujevo abgefeuert wurden, auch die Nachbarn schossen. Darin sind sich alle einig. Nur weiß niemand, weshalb. „Wir haben uns immer gegenseitig geholfen“, beteuern alle, „es gab keine Konflikte.“

Ismet Jashari, mit dem Maurer aus München nicht verwandt, behauptet, die Polizei habe Häuser geplündert. Davon sind alle überzeugt, doch gesehen hat es von den Umstehenden keiner. Und nachschauen kann man nicht. Denn die Häuser sind zwar gut sichtbar jenseits des verschneiten Felds, nur 300 Meter entfernt, aber dort haben sich serbische Polizisten einquartiert. Die Front läuft quer durchs Dorf. Am Wegrand haben UCK-Soldaten Gräben ausgehoben und Burgen aus Sandsäcken gebaut. Die Kriegsgegner beäugen sich. Es gibt keine Kommunikation, doch es wird auch nicht geschossen, in Obrandza herrscht wieder Waffenstillstand.

Die Kuh ist gemolken, die Türen sind fest verriegelt, und das Ehepaar Jashari macht sich wieder auf den Weg nach Letance am Stadtrand von Podujevo. Hierhin sind die meisten geflohen, als Weihnachten die Schüsse fielen. Bei der Familie Kastrati sind 24 Flüchtlinge untergekommen. „Wir haben zehn Zimmer“, sagt der Familienvater stolz, „und Brot gibt es genug für alle.“ 29 Jahre hat er in Landshut gearbeitet und sich dann das stattliche Haus gebaut. Sein Nachbar hat zwanzig Flüchtlinge aufgenommen, dessen Nachbar weitere achtzehn.

Alle waren sie völlig überrascht vom Ausbruch der Kämpfe. Den ganzen Sommer über war es ruhig hier, und dann, als seit bald drei Monaten Waffenruhe herrschte, gingen die Kämpfe ausgerechnet hier los. Keine Familie traut sich, ins Dorf zurückzusiedeln. Alle fürchten, daß der Krieg wieder ausbricht. „Nur die OSZE gibt uns etwas Sicherheit“, sagt Agim Kastrati. Alle sind froh, daß ab und zu die orangefarbenen Jeeps der „Europäer“ vorfahren.

„Wir bemühen uns, die Truppen zu entflechten“, heißt es im OSZE-Büro von Podujevo. Doch als geschossen wurde, waren die unbewaffneten Beobachter machtlos. „Verschwindet, oder wir schießen!“ hätten die serbischen Polizisten mit vorgehaltener Waffe ein norwegisches Team angeschrien, berichtet William Walker, der Chef der OSZE-Mission im Kosovo. „Wir sind ja noch kaum angekommen und müssen uns erst aufbauen“, sagt einer seiner Männer vor Ort, „das ist alles viel schwieriger, als ihr Journalisten euch das so vorstellt: Kontaktaufnahme mit den Kriegsparteien, Kontrolle der militärischen Konvois, die über die Straßen rollen, und die UCK zeigt uns ihre Waffen schließlich auch nicht.“

Doch heute kann die OSZE einen kleinen Erfolg verbuchen. Am Nachmittag strömen über zweitausend Menschen aus Podujevo über die unsichtbare Front nach Obrandza. Gestern haben sie sich nicht getraut, heute aber fahren zwei orangefarbene Autos mit. Remzi Demolli soll beerdigt werden. Der Englischlehrer wurde am zweiten Weihnachtstag von Granatsplittern getroffen und starb in der Nacht darauf im Krankenhaus von Priština. Am Grab steht wieder eine martialische Ehrenwache. Unter den Trauernden stehen Dutzende bewaffneter UCK- Kämpfer. Viele tragen weiße Mäntel, Tarnkleidung im Schnee.

Der Hodscha stimmt das Klagelied an. Fernsehteams drängeln betende Alte zur Seite, um die heulende Mutter am Sarg des Getöteten aus nächster Distanz zu filmen. Niemand scheint sich daran zu stören. „Hauptsache, die Welt erfährt, was uns hier passiert“, entschuldigt einer die pietätlose Art der Ortsfremden. „Ein Albaner, der an der Front stirbt, das ist wie eine Hochzeit“, hatte Ismet Jashari pathetisch geflüstert. Die Männer nehmen die Schaufeln und werfen die ausgegrabene Erde über die Grube. Remzi Demolli war kein Kämpfer, nur ein Lehrer.