Schritte ins Leere wagen

■ Wo immer Erneuerung nötig ist, war 1998 ein wohlfeiles Wort zur Stelle: Innovation. Es verhindert, daß tatsächlich Neues zur Welt kommt

„Geräte aller Länder, vereinigt Euch!“ beflaggte kürzlich eine Computerfirma die Auffahrt zum Frankfurter Flughafen. Auf anderen von derselben Firma gehißten Fahnen stand „Reißt die Mauern nieder“. Die großen Versprechen, die einst Religionen und zuletzt politische Bewegungen machten, werden auf Werbeflächen recycelt: Aufbruch, Zukunft und Erneuerung.

„Die Revolution geht weiter!“ wirbt Renault. Und Siemens, der altbackene Elektrokonzern, der sich selbst neuerdings „die Kraft des Neuen“ nennt, schaltet eine Anzeigenserie: „Innovation ist, wenn...“ Einmal hieß der Konditionalsatz: „Innovation ist, wenn man nie genug kriegen kann.“

Mit Parolen wie „Innovationen für Deutschland“ gewann die SPD die Bundestagswahlen. Eigentlich wollte auch sie sich „Kraft des Neuen“ nennen, damit aber handelte sich die Werbeagentur der Partei von der des Elektrokonzerns eine einstweilige Verfügung ein.

Wenn er das Wort Reform höre, so kürzlich der frühere Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Johannes Rau, dann fasse er unwillkürlich zum Portemonnaie. Also wird es vermieden. Innovation ist nun das Wort, das Parteiprogramme von Schwarz bis Grün so verwechselbar macht. Es ist eine Formel für Entpolitisierung. Aber so viele Innovationen uns auch um die Ohren gehauen werden, das Wort behält seinen Zauber.

In einer Anzeige fragt der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft: „Wann fällt Deutschland durchs Examen?“ und liefert, wie es sich für eine Anzeige gehört, die eindeutige Antwort für den Leser gleich mit: „Wenn es nicht mehr auf Innovationen setzt.“ Ja gut, aber auf welche denn? Es gehört zur Innovationsbeschwörung, daß man nicht verraten muß, was man vorhat.

In unserer christlich-abendländischen Tradition ist der Glaube, daß die Gegenwart ein Jammertal sei, tief verankert. Das wahre Leben wird später erwartet. Erlösen soll uns die Zukunft, das neue Zeitalter oder eben sein Zerfallsprodukt: die heilige Innovation. Wir haben einen großen Vorrat an Erlösungshoffnungen, auch wenn wir nicht so genau wissen, was uns wie erlösen soll. Nur soll weiterhin gelten: Alles ist noch möglich! Nichts ist verloren! Irgendwann wird alles gut! Für diese säkulare Spätreligion ist es geradezu nötig, ein Wort zu haben, das nichts bezeichnet, aber doch alles erahnen läßt. Das berühmte Licht am Ende des Tunnels. Das ist eine Metapher für den Geburtskanal.

Geburt! Das wäre allerdings eine ganz andere Debatte: Geburt und Wiedergeburt und die dauernde Notwendigkeit von Erneuerung, stirb und werde, immer wieder.

Aber Innovation? Wann immer es wirklich um Erneuerung geht, und die ist ohne Geburtswehen eben nicht zu haben, kann diese Generalprothese die Qual ersparen, tatsächlich etwas zur Welt zu bringen. Statt der unvermeidlichen Leiden und der sie überschreitenden Leidenschaft zieht die Innovationsgemeinschaft ihre Jokerkarte und handelt sich thematischen Dauerstreß ein. Reden statt handeln. Versprechen statt Erneuerung. Die Innovationsjagd hat etwas von der Sexualität endloser Vorlust. Sie bleibt ohne Befriedigung und muß deshalb ihre Angebote, Reize und Versprechen ständig überbieten. Der Streß wird von Produktionszyklen gemacht, die nach dem Schema der monoton superschnellen Schnitte in gewissen Fernsehsendungen funktionieren. Das neue Bild dementiert das vorangegangene. Bilder, denen wohl schon die Macher mißtrauen. So wird eher das große Vergessen betrieben als Aufmerksamkeit hergestellt. Aber beim schnellen Schnitt kommt im Zuschauer das flirrende Gefühl auf: Da war doch was, dauernd verpaßt man was. Also schneller, schneller, mehr davon. Und am Ende verpaßt der untätige Zaungast vor allem sich selbst.

Daß „Innovation“ nicht wirklich als Erneuerung gemeint ist, wird daran deutlich, daß kaum jemand in unserer Kultur so schlecht angesehen ist wie der Anfänger. Anfänger sein, das sollten wir doch so schnell wie möglich hinter uns bringen, um bald fertig zu werden und um die Wissensbeute einzufahren in die Scheunen des Nutzens. Dem Anfänger gelten bei uns normalerweise Verachtung und Mißtrauen. In unserer Kultur hat er nur als Kind oder als Stümper Platz, er ist unfertig. Wenn aber Anfänge ausbleiben, werden wir gelebt und hören selbst damit auf. Spätestens dann zeigt sich: Die fertige Welt hat keine Zukunft außer der der Destruktion. Aber Einreißen ist noch kein Anfang. Es gilt also, den Anfänger zu rehabilitieren. Er ist das Gegenbild zu der in unserer Kultur angestrebten Perfektion, zum Fetischismus und zum Glauben an die Kraft der Prothesen. Der Anfänger ist eine Person. Perfektion ist ein Zustand. Perfektion ist giftig, wie chemisch reines Wasser giftig ist. Etwas von diesem Gift hat auch die Innovation. Und dennoch: Das gezinkte Wort verweist auf den enormen Erneuerungsbedarf am Ende der industriellen Moderne. Überlassen wir also das Thema nicht jenen Nekrophilen, die sich als Innovationsapostel tarnen. Langsam dämmert vielen, daß das Innovationsgerede wie eine Grabplatte ausgerechnet auf jenen Spalten und Ritzen liegt, aus denen allein Neues aufsteigen könnte.

Kürzlich hat Wolfgang Frühwald, der ehemalige Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, vorgeschlagen, das Wort Innovation zehn Jahre lang nicht mehr zu benutzen. Bisher war Frühwald als unermüdlicher Mahner aufgefallen, der den deutschen Innovationsmangel beklagt. Doch inzwischen verhindere das Wort, was es befördern soll. Unter „einer wirklichen Innovation“, die er meint, unter einer „Basisinnovation“, versteht Frühwald zum Beispiel kein verbessertes Auto, sondern „ein revolutionäres Verkehrssystem“. Davon, darüber nachzudenken, halten uns aufwendige Scheinlösungen von der Art elektronischer Verkehrsleitsysteme ab. Die meisten „Innovationen“ reduzieren Phantasie auf Technik. Es geht um Dinge, um innovative Produkte, möglichst um intelligente Produkte! Intelligente Menschen? Der richtige Zauber liegt eben in den Dingen und in gewissen Worten.

Veränderungen zwischen den Menschen und in ihrem Denken werden an Dinge delegiert beziehungsweise auf Muster reduziert, die wie Dinge funktionieren sollen: Lücken füllen, statt Freiräume zu eröffnen; Angst narkotisieren, statt sie auszustehen; sich Probleme vom Hals schaffen, statt die vorhandenen in intelligentere, lebensfreundlichere zu verwandeln. Die Handlungen, die anstehen, wären zugleich auch Selbstveränderungen. Das macht angst.

Der chilenische Biologe Humberto Maturana erzählt das Gleichnis von einem Mann, der an einer Klippe steht und es wagt, einen Schritt ins Bodenlose zu setzen. Wie er diesen Schritt wagt, wächst ihm Boden unter den Füßen. Ein ähnliches Bild gibt es bei Franz Kafka. Ein Mann geht eine Treppe hoch, die bricht plötzlich ab. Vor ihm der Abgrund, das Nichts. Aber wenn er weitergeht, wächst die Treppe mit. Kreativität – auch das Wort droht zu so einem Joker aus Plastik zu werden – heißt genau dieses: Aus dem Nichts entsteht etwas. Da, wo noch niemand stand, kann man sich bewegen. Jeder kennt solche Erfahrungen und weiß, welches Glücksgefühl mit diesen Schritten verbunden ist, wenn man sie wagt. Dazu brauchen wir allerdings etwas mehr Leere und nicht soviel Lehre, mehr Fragen und nicht so viele Antworten, deren Übermaß so sicher das Lernen und eben die Erneuerung verhindert wie kaum etwas anderes.

Daß und wie das funktionieren kann, zeigen Unternehmen, in denen es nun heißt: „Wenn jemand etwas gut kann, dann soll er das Team wechseln und als Anfänger in ein anderes einsteigen.“ Das ist tatsächlich ein Motto bei Ploenzke, einem der erfolgreichsten Unternehmen in der Computerbranche, das die Kunst, Anfänger auf immer höherem Niveau zu werden, kultiviert.

Also Schritte ins Leere wagen! Vielleicht sollten wir uns dabei sogar viel mehr Angst zugestehen, denn Angst ist ein hervorragendes Erkenntnismittel. Sie ist eine der empfindlichsten Sonden, die wir haben. Was einen allerdings das Fürchten lehren kann, ist die verbreitete Angst vor der Angst. Die lähmt. Reinhard Kahl