Kommentar
: Pfützen der Peinlichkeit

■ Der neue Bundeskanzler grüßt das Volk zum neuen Jahr

Es wird Zeit, sich auch für Gerhard Schröder einen Spitznamen zu überlegen. Nicht daß das Schmähwort von der „Birne“ seinen Vorgänger Helmut Kohl besonders treffend charakterisiert hätte, doch verlieh es Anfang der achtziger Jahre dem weitverbreiteten Gefühl Ausdruck, der Mann sei irgendwie lächerlich und seine Aussprüche peinlich. Gerhard Schröder hat mit seiner ersten Neujahrsansprache auch in dieser Hinsicht die Nachfolge des Pfälzers angetreten.

Hat ihn denn niemand gewarnt, daß Reden fast unausweichlich in Anbiederei münden, wenn Berufspolitiker sich „an die jungen Menschen in unserem Land“ wenden? Selbst Ex-Turnschuhminister Joschka Fischer hütet sich wohlweislich davor, die dreißig Jahre Altersunterschied zur nächsten Generation kaschieren zu wollen. Der neue Kanzler stapft dagegen munter durch die Pfützen der Peinlichkeit. In einer Mischung aus treudoof und altväterlich schlägt er den jungen Menschen ein „Abkommen“ vor. Als gehörte es nicht ohnehin zu den Aufgaben, die zu erledigen die neue Regierung gewählt wurde, bietet er an, sich für mehr Ausbildungs- und Arbeitsplätze einzusetzen: „Und dafür versprechen Sie, liebe Jugendliche, Ihre Fähigkeiten, Ihre Kreativität und Ihre Unternehmungslust einzusetzen.“ Die Szenen nach der Fernsehausstrahlung heute abend lassen sich leicht ausmalen: „Großes Pfadfinderehrenwort!“ dürfte es glockenhell aus den Kehlen der Buben und Mädels im ganzen Land schallen.

Gerade weil an einer Neujahrsansprache nicht wochenlang gefeilt wird, läßt sich an ihr ablesen, wie wenig Schröder mit dem Mittel der öffentlichen Rede anzufangen weiß. Was die Nation heute abend zu sehen bekommt, ist eine Rede wie ein Terminkalender. Nach dem Appell an die Jugend hakt der Kanzler Punkt für Punkt ab, was die Zuschauer der „Tagesschau“ im nächsten Jahr erwartet: deutscher Ratsvorsitz in der EU, Bündnis für Arbeit in Bonn, G-7-Gipfel in Köln, Regierungsumzug nach Berlin. Nicht nur, daß die verbindende Idee fehlt, Gerhard Schröder richtet sich überdies an dieselbe bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft wie zuvor Helmut Kohl: Die Perspektive auf Fragen der Innen- wie Außenpolitik ist bestimmt von den Konsequenzen für Arbeitsplätze und Absatzmärkte. Rhetorisch ist die Republik nach drei Monaten Schröder dort angelangt, wo Kohl nach 16 Jahren aufhörte.

Patrik Schwarz Bericht Seite 6