Der geniale Musiker als Jojo

Das Leben des Komponisten Dmitri Schostakowitsch war ein Auf und Ab. Vom Staatsmusiker zum Dissidenten – und wieder zurück. Ein Gespräch mit dem Musikdozenten und Tonsetzer Gerard McBurney  ■ von Judith Vidal-Hall

Die Kunstwelt der Sowjetunion wurde in den frühen dreißiger Jahren radikal umorganisiert. Die Künstler hatten sich fortan als Teil der Propaganda zu verstehen, die mit sozialistischem Realismus zur Umerziehung des Volkes beizutragen hatte. Doch noch kurz zuvor war Außerordentliches geschehen: 1926 tauchte wie aus dem Nichts das Wunderkind Dmitri Schostakowitsch auf.

Als Zwanzigjähriger eroberte er das an klassischer Musik interessierte Publikum im Sturm – mit seiner Ersten Symphonie, die er als Abschlußarbeit für das Leningrader Konservatorium komponiert hatte, wo er bereits als Kind studieren durfte.

Kurz nach der Erstaufführung erlebte die Symphonie in der ganzen Welt Hunderte von Aufführungen. Auf einmal war Schostakowitsch einer der berühmtesten Komponisten der Welt. Er sollte das sein ganzes unglückliches Leben lang bleiben.

Für die sowjetischen Machthaber kam das einem Problem gleich: Schostakowitsch war im Ausland schnell zu einer begehrten kulturellen Größe geworden. Zu jener Zeit lebten mit Prokofjew, Strawinsky und Rachmaninow die drei wichtigsten russischen Komponisten im Ausland. Und nun gab es da plötzlich diesen Jungen, der schon jetzt im Westen berühmt war. Einerseits hatte man große Lust zu sagen: „Schaut her, was unsere sowjetische Kultur vermag. Sie bringt Genies hervor! Ihr im Westen habt keinen Beethoven mehr, nur solche Dekadenten wie Schönberg und Strawinsky. Wir aber haben Schostakowitsch.“ Aber so einfach war das nicht, denn seine Kunst war eher schwierig und eindeutig nicht proletarisch.

Eine Zeitlang geht alles noch gut. Schostakowitsch schreibt 1927 und 1928 Symphonien für große sowjetische Feiertage, wie die Oktober- und die Erste-Mai-Symphonie mit Slogans schreienden Chören, die er in einem wilden, verrückten Stil komponierte. Doch die Symphonien waren nur mäßig erfolgreich, obwohl Schostakowitsch sie selbst als Kompromiß sah und sich später dafür verurteilte, so etwas komponiert zu haben.

Er schrieb damals einige Kompositionen für den Film und für das politische Theater. Er arbeitete mit Meyerhold, Rodschenko und Majakowski an der ersten Produktion von Majakowskis „Die Wanze“. Er war noch ein Junge, bewegte sich aber ganz selbstverständlich in dieser Welt der Stars.

Doch fast alle diese Stars nahmen schon bald ein schreckliches Ende. Auch für Schostakowitsch wurde es politisch schwierig. Seine Erfolge im Westen brachten ihm zu Hause viele Feinde ein. Weniger talentierte Komponisten waren eifersüchtig. Die Geschichte der sowjetischen Kunstpolitik ist gespickt mit Neid und Eifersucht. Und obwohl Schostakowitsch das wußte, tat er nichts, um sich beliebt zu machen. Im Gegenteil: Wenn er meinte, daß ein Kollege schlechte Arbeit machte, gab er sich auch keine Mühe, seine Meinung zu verbergen. Er bereitete unfreiwillig so zukünftigen Katastrophen den Weg.

Schon seit seinem frühen Meisterwerk „Die Nase“ wollte Schostakowitsch eine abendfüllende Oper schreiben. Mit „Lady Macbeth“ erfüllte er sich diesen Wunsch. Das Stück wurde Gegenstand heftiger Debatten. Man konnte damals keine Geschichte erfolgreich auf die Bühne bringen, ohne dem Publikum die Identifikation mit einer klassisch oder romantisch angelegten Heldin anzubieten. „Lady Macbeth“ tat das nicht.

Das Stück repräsentiert eine wichtige Stufe in der Entwicklung des Komponisten. Obwohl es in Bruchstücken noch Elemente avantgardistischer Musik enthält, sind diese jetzt doch eingebettet in eine breiter und drängender angelegte Musik, die wie populäre Filmmusik darauf zielt, die Menschen mit der Entfesselung ihrer Gefühle zu überwältigen. Das Stück repräsentiert Schostakowitschs Entwicklung vom eher begrenzten Feld der Avantgarde zu etwas Neuem. Er bewegte sich nunmehr in offenem Gelände, wo man ihn nur schwer packen konnte.

Es gibt in den beiden ersten Akten zwei schockierende Gewaltszenen. In der einen wird eine Bäuerin von einer Gruppe von Männern vergewaltigt. In der anderen schleicht sich Sergei, der Anführer dieser Gruppe, mitten in der Nacht ins Schlafzimmer der Heldin und vergewaltigt auch sie. In der Heldin Katerina wird dadurch ein gewaltiges erotisches Feuer entfacht. Sie langweilt sich in ihrem Ehealltag mit einem impotenten Mann und einem geilen Schwiegervater. Bei dem groben Bandenführer entdeckt sie, was sie wirklich will.

Die Musik dieser Szene ist auch wirklich die Musik des Höhepunkts: Die Liebenden singen ein Duett, während das Orchester in aller Deutlichkeit den sexuellen Akt beschreibt. Die Bühnenanweisung fordert für diese Szene ein riesiges Bett. Man hat diese Sequenz pornographisch genannt, aber sie ist es nicht. Vielmehr ist es eine Komödie, eine Satire, denn was beim Publikum ankommt, ist nicht eine erotische Spannung wie bei „Tristan und Isolde“, sondern eher ein gogolscher Hohn und Spott, das hohle Lachen des Menschen als Tier.

Die Katastrophe ereignet sich, als Stalin mit seinen Begleitern während der Aufführung aufsteht und das Theater verläßt. Wenige Tage später, Schostakowitsch war gerade im Norden auf Tournee, bekam er ein Telegramm von Freunden, in dem stand: „Kauf die Zeitung!“ Und da fand er auf Seite 3 der Prawda den berüchtigten Verriß „Verwirrung statt Musik“, der angeblich von Stalin selbst geschrieben worden war. Dieser legendäre Augenblick war einer der bedeutendsten der europäischen Musikgeschichte.

Mit diesem Artikel begann eine brutale Kampagne gegen Schostakowitsch. Als er nach Leningrad zurückfuhr, bemerkte er, wie die Leute die Straßenseite wechselten, um ihm nicht begegnen zu müssen. Sein Ballett „Der klare Bach“, ein eher stalinistisches Machwerk, das seit Monaten im Bolschoitheater getanzt wurde, galt plötzlich als „ballettistische Lüge“ und wurde abgesetzt. Man bezeichnete ihn als Marionette des Westens, als bourgeoisen Tonsetzer, als Mann, der höchstpersönlich den Sozialismus untergrabe. Die Aufführung der Vierten Symphonie, eines seiner ungewöhnlichsten und aggressivsten Stücke, wurde Mitte Mai desselben Jahres noch während der Proben gestoppt.

Diese Ereignisse veränderten sein Leben gänzlich. Fast über Nacht wurde aus dem brillanten Jungkomponisten, dem spritzigen Unterhalter und beißenden Satiriker, ein düsterer Tragiker. Die Musik der Quartette stammt beispielsweise aus dieser Zeit. Davor hatte er kaum je abstrakte Musik geschrieben. Alles war bei ihm immer Theater, Drama und Parodie gewesen.

Aus dem Goldjungen wurde der Prügelknabe des Regimes, das an ihm seine Macht über die Künstler des Landes vorexerzierte. In den offiziellen Körperschaften des sowjetischen Musiklebens wurden die Mühlen in Gang gesetzt, die den zermahlen sollten, der bislang ihr König, ihr Zentrum und Hauptexportgut war.

Es ist wohl kaum Zufall, daß genau zu diesem Zeitpunkt Prokofjew zur Rückkehr überredet wurde. Das paßt in ein größeres Muster, zu dem auch die Rückkehr Gorkis und Eisensteins zu rechnen ist. Hartnäckig machte man denen den Hof, die in den Westen gegangen waren und die das Regime plötzlich gern wieder im Lande gesehen hätte. Doch am Ende sollten auch die Leben Eisensteins, Gorkis und Prokofjews zerstört werden.

In den Jahren 1935 bis 1937 fand die unbarmherzige Verfolgung Schostakowitschs statt. Er stand am Pranger, seine Musik blieb unaufgeführt. Schließlich komponierte er, im verzweifelten Bemühen, seine Situation zu verbessern, die Fünfte Symphonie: ein wahnsinniger Erfolg! Schostakowitsch hatte seine musikalische Sprache vollständig verändert. Das war für viele Zuhörer ein regelrechter Schock.

Die einen sahen in dieser Symphonie den ursprünglichen Gedanken der Tragödie in Gänze ausgedrückt. Es heißt, die ersten Zuhörer hätten sofort begriffen, daß dies der Beginn einer musikalischen Sprache war, die, anders als Text und Bild, alles verdeutlichen konnte, trotz der Säuberungen, die damals in vollem Gang waren. Für andere war die Fünfte genau das Gegenteil: eine krude Rückkehr zu einem konservativen, kitschigen und reaktionären musikalischen Ausdruck, dessen Referenzpunkte Filmmusik und die Musik des 19. Jahrhunderts waren.

Ich glaube, man kann die Problematik dieser Symphonie nicht auf so einfache Gegensätze reduzieren. Der Druck, durch den eine bestimmte musikalische Sprache entsteht, ist viel subtiler. Er ist im wesentlichen auf der Ebene des Ausbruchs, der Explosion angesiedelt.

Und klar ist, daß Schostakowitsch als Privatperson derartig unter Druck stand, daß er als Künstler mit neuen Ausdrucksmöglichkeiten wiedergeboren werden konnte. Es ist schon unglaublich, daß diese Fünfte Symphonie zur gleichen Zeit hervorgebracht werden konnte wie Prokofjews Propagandastückchen „Peter und der Wolf“.

Die Fünfte machte Schostakowitsch wieder zum Helden. Aber zu einem Helden ganz anderer Art, nämlich einem der Intelligenzia, dessen Liebling er vorher nie gewesen war. Die erste Aufführung 1937 erscheint uns heute als Schlüsselmoment in der endlosen moralischen Debatte der sowjetischen Intelligenzia über ernste Musik. Augenzeugen der Uraufführung in Leningrad berichten, daß vielen Menschen die Tränen über das Gesicht liefen. Sogar Ehrenburg fühlte, daß in dieser Musik eine ungeheure Not ausgedrückt wurde.

Trotzdem strahlte die Musik Würde aus. Obwohl viele westliche Musiker, die die Fünfte hörten, ihr gerade dies absprachen, war es für die Hörer in der Sowjetunion, im Kontext der politischen Situation, eine grandiose Anerkennung ihrer Menschenwürde. Gleichzeitig sind in dem Stück auch alle Elemente enthalten, zu deren Gebrauch sowjetische Komponisten angehalten wurden. Und Schostakowitsch wurde wieder gnädig aufgenommen.

Mit der Fünften Symphonie gelangen wir an den entscheidenden Punkt, der für alle begabten Komponisten früher oder später problematisch wurde, selbst für Prokofjew. In den folgenden zwei Jahrzehnten ging es mit ihren Werken, wie mit denen so vieler anderer Künstler bis zu Stalins Tod, ständig auf und ab. Man behandelte sie wie Jojos.

Doch noch einmal zurück zu der ideologischen Kritik an Schostakowitschs Werk. Bis in die heutigen Tage hinein streiten die Kritiker über die Fünfte Symphonie: Die einen sagen, sie ende, wie die sowjetischen Herren es wollten, als auftrumpfende Affirmation der siegreichen sowjetischen Ideologie. Die anderen verweisen auf das Empfinden der Intellektuellen von damals, die all das Grauen, die Tragik und die Verzweiflung ihrer damaligen Situation in der Symphonie ausgedrückt fanden. Aber der Punkt ist, daß sie beides gleichzeitig sein kann.

Genau dies ist die Ambivalenz dieser Musik. Eine, die beunruhigt. Alle möglichen Leute wollen diesen Mann für sich reklamieren, und immer, wenn sie irgendwo festen Boden unter den Füßen haben, verändert er die eigenen Grundlagen, um sich mit ihnen entweder zu verbünden oder ihnen den Boden wegzuziehen.

Dann kam der Zweite Weltkrieg, und Schostakowitsch erschrieb sich einen weiteren Erfolg, die „Leningrad Symphonie“. Sie ist angeblich per Mikrofilm auf einem Konvoi außer Landes geschmuggelt worden. Die Sowjetunion war jetzt Alliierter des Westens, und die Musik wurde zu einem großen Propagandastück der Alliierten. Dann gab es das berühmte Titelbild der Times, auf dem Schostakowitsch als Feuerwehrmann abgebildet ist. Ein Bild, das sich einprägte.

Am Ende des Krieges war Schostakowitsch außerhalb der Sowjetunion in den Köpfen aller, die auch nur ein bißchen kulturell interessiert waren, mit der offiziellen Hoffnung des sowjetischen Volkes identifiziert. Schon ein kurzes Hören seiner Musik zeigt, daß das nicht hinkommt. Gleichwohl hat diese Propagandageschichte bis heute das Bild von ihm geprägt. Gleichzeitig darf man aber auch nicht den Umkehrschluß ziehen, seine Musik sei antisowjetisch gewesen. Interpretation findet beim Zuhörer statt, nicht beim Komponisten.

Interessant ist, daß nach dem Zweiten Weltkrieg Schostakowitsch trotz alledem der offizielle Komponist der Sowjetunion wurde, obwohl alle anderen Komponisten weiterhin versuchten, seinen Ruf zu untergraben. Auch Prokofjew unterstützte die Angriffe auf Schostakowitsch. Er wurde erneut als Feind des Volkes angeprangert. Es war seine zweite öffentliche Vernichtung.

Dann folgte das Tauwetter unter Chruschtschow; Schostakowitsch saß jetzt zwischen allen Stühlen. Er schrieb zu der Zeit musikalische Komödien und versuchte es sogar mit Popsongs. Er schrieb ein albernes, völlig verkitschtes Stück, „Das Herz des Vaterlandes“, das angeblich sogar Gagarin auf seinem ersten Flug ins All gesungen haben soll.

Seit Mitte der fünfziger Jahre geriet er unter Druck, endlich der Kommunistischen Partei beizutreten, was er zur Enttäuschung seiner Freunde 1961 auch tat. Nach 1936 und 1948 war dies seine dritte Verfehlung. Inzwischen aber war Schostakowitsch alt, und sein Selbstrespekt fast bei Null angekommen.

Er hat noch bis 1975 gelebt, als bereits die nachstalinistischen Komponisten auf den Plan traten, Schnittke, Denisov, Pärt, Hrabowskie und andere, die er fast alle auf die eine oder andere Weise unterstützt hat. Sie wurden zum Inbegriff dessen, was man die alternative, inoffizielle, westlich ausgerichtete Avantgarde nannte, deren Musik im Lande selbst wenig aufgeführt wurde, obwohl sie im Westen große Erfolge feierte.

Vielleicht hat das bei Schostakowitsch zu einem Gefühl der Isolation beigetragen, plötzlich als Künstler dazustehen, der jeglichen Bezug zur modernen Musiksprache verloren hatte. Späte öffentliche Arbeiten wie die Zehnte Symphonie, scheinen vor allem an das Gewissen einer jüngeren Generation appellieren zu wollen. Aber vielleicht wollte Schostakowitsch mit ihnen vor allem auch seine Selbstachtung wiedergewinnen.

Inzwischen wurde er wie ein alterndes Genie behandelt. Und er war einsam. Die Kammermusik, die er zu dieser Zeit schrieb, drückt diese ungeheure Einsamkeit aus.

Seine Geschichte ist schwierig und komplex, und sie wird fast täglich umgeschrieben. Um 1989 herum, als alles zusammenbrach, schlossen sich Sekretäre der Musikergewerkschaft – dieselben Leute also, die ihn damals verfolgt hatten – umstandslos der Bewegung an, die für eine Revision im Fall Schostakowitsch eintrat. Heute sprechen sie von ihm wie von einem Heiligen.

Auf der Höhe seines Schaffens haben die Werke dieses Mannes viele Menschen zutiefst bewegt. Sie kam denen entgegen, die zuhören wollten, und gab denen, die unter dieser sinnlosen Verschwendung von Leben gelitten haben, ihre Würde wieder.

Das ist heute vielleicht sogar noch mehr der Fall – und deshalb sind die Debatten über das Werk von Schostakowitsch bis heute auch so heftig.