■ Die Kasseler Forscher Gabriele Gorzka und Wolfgang Adamczak initiieren Kooperationsprojekte in Osteuropa
: „Inzwischen ist längst große Ernüchterung eingetreten“

Seit 1992 gibt es an der Gesamthochschule Kassel (GHK) das Ost-West-Wissenschaftszentrum (OWWZ). Es initiiert und fördert Kooperationsprojekte in Forschung und Lehre mit den Ländern Osteuropas. Gabriele Gorzka ist Leiterin des OWWZ. Wolfgang Adamczak ist Mitglied des Forschungsreferats an der GHK.

taz: Wie ist aus Ihrer Sicht der Stand der deutsch-russischen Zusammenarbeit im Wissenschaftsbereich?

Gabriele Gorzka: Die Kooperation läuft sehr gut, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: Projekte müssen an unmittelbarer Praxis vor Ort ansetzen. In der Forschung und Entwicklung müssen Fragestellungen bearbeitet werden, die für beide Seiten von Interesse und an neuesten internationalen Standards orientiert sind.

Wolfgang Adamczak: Nach einer ersten kurzen Euphorie in der Zeit nach der Öffnung der Grenzen ist inzwischen große Ernüchterung eingetreten.

Welche Hindernisse für eine stärkere Zusammenarbeit gibt es?

Adamczak: Oft ist fehlendes Geld auf russischer Seite das größte Problem. Daher können nur selten Projekte durchgeführt werden, die eine wirklich gleichberechtigte Zusammenarbeit vorsehen, das heißt zum Beispiel, daß jeder seine eigenen Kosten zahlt. Die Programme der EU wie TEMPUS und PHARE sehen daher vor, daß der Großteil der bewilligten Mittel in Osteuropa ausgegeben wird. Aber auch deutsche Partner nutzen die Möglichkeiten zur Förderung gemeinsamer Projekte oft nicht in ausreichender Form.

Gibt es auch kulturelle Barrieren?

Adamczak: Sicher. Welcher deutsche Professor geht zum zweitenmal auf eine Reise zu einem sibirischen Kooperationspartner, wenn er Ende September bei Minusgraden und Schneetreiben empfangen wird und dann im Studentenwohnheim, in dem er untergebracht wird, feststellen muß, daß die Heizperiode noch nicht begonnen hat und aus der Dusche nur kaltes Wasser kommt?! Das ist uns vor sieben Wochen gerade passiert. Doch uns wird es nicht hindern, die dort begonnene Arbeit fortzusetzen.

Können Sie die Berichte über eine weitgehende Kommerzialisierung des russischen Bildungssystems bestätigen?

Adamczak: Daß das so weitreichend ist, wage ich zu bezweifeln. Die Kommerzialisierung setzt eher bei Angeboten ein, die man bei uns als Weiterbildungsangebote bezeichnen würde, die dann oft den Charakter von Berufsakademien haben. Beim Studentenaustausch ist allerdings das Problem, daß die russischen Studentinnen und Studenten in der Regel selbst Geld haben müssen, um den Aufenthalt in Deutschland angemessen finanzieren zu können. Dadurch gibt es natürlich eine Selektion!

Dem russischen Bildungssystem sei nicht zu helfen, heißt es immer wieder. Geld sei zwar willkommen, westliche Ratschläge zur Umgestaltung aber keinesfalls – taugen die deutschen Hochschulen überhaupt als Vorbild?

Gorzka: Unsere Rolle kann nur sein, eigene positive wie negative Erfahrungen zur Diskussion zu stellen. Die russische Seite muß – mit Blick auf eigene Traditionen und Prioritäten – letztlich selbst die Entscheidungen treffen.

Welche Tendenzen sehen Sie in der russischen Hochschul- und Forschungslandschaft? Gibt es für den todkranken Patienten Hoffnung auf Gesundung?

Adamczak: Das ist vor allem eine Frage der politischen und ökonomischen Entwicklung in Rußland, denn das Wissenschaftssystem ist nur in diesen Rahmenbedingungen zu sehen. Bleibt es bei der politischen und ökonomischen Krise, wird auch das Wissenschaftssystem leiden und weiter ausbluten.

Gorzka: Auf einer Tagung Mitte Dezember in Kassel betonten russische Hochschulvertreter, daß in Rußland eine neue Welle entsteht: Die Studierenden wählen verstärkt Fächer nach wissenschaftlichem Interesse statt nach Marktgesichtspunkten. Studienmotivation und kritische Mitwirkung sind sehr groß geworden. Interview: Wiebke Rögener