Weltgeist am Boden

■ Von Herzen gejubelt: Das Neujahrskonzert der Philharmoniker

Nicht alles, was fünf Minuten braucht (Fünf-Minuten-Terrine), ist synthetisch-blasse Fließbandware. So gab es zum traditionellen Silvesterkonzert der Hamburger Philharmoniker, quasi als Vorsuppe, die Fünf-Minuten-Kantate Babel von Igor Strawinsky. Und die hatte es in sich. Es handelt sich um ein 1944 entstandenes, auf einem Fünftonmotiv aufbauendes Werk von flüchtiger Kostbarkeit, in dessen schnellem, fugiertem Mittelteil am Donnerstag in der Musikhalle freilich erste Unwachheiten des Orchesters bemerkbar wurden. Der Rezensent verdankt dem rhythmisch mit der Musik verbandelten Erzähler des alttestamentarischen Textes (Carl Schultz) immerhin die Erkenntnis, daß, wie so vieles, auch die Rap-Musik keine Erfindung der neuesten Zeit ist. Sie ist dem guten alten Melodram zu verdanken. Insoweit ist Strawinskys Kantate Babel eine Art Rap-Largo.

Solch ein Stück zu präsentieren kann sich natürlich nur leisten, wer Orchester, Chor und Solisten länger als fünf Minuten zu beschäftigen weiß. Und dazu war vorgestern – wegen Sylvester und wegen der Länge – Beethovens Neunte Sinfonie wie geschaffen. Doch so sehr man das vom musikalischen Leiter dieses Altjahrsvormittags erwarten durfte – Ingo Metzmacher brachte die der Neunten Sinfonie ganz eigene Dynamik des Wechsels von Spannungsaufbau, -einbruch und relaxender Erlösung einfach nicht zustande. Da konnten seine Bewegungen noch so heftig sein – es kam vom Orchester keine Heftigkeit zurück. Alles klang wie zu lange auf dem Herd, da war nix al dente. Der Weltgeist hob nicht ab, revolutionär, wie Beethoven es gern gehabt hätte. Statt dessen blieb alles biedermeierlich fremd.

Bis – ja, bis der wahrlich grandiose Chor der Hamburgischen Staatsoper aufstand. Brigitte Hahn (Sopran), Katja Pieweck (Alt), Heinz Kruse (Tenor) begannen zu jubilieren, und als Andreas Schmidt mit schön-verständlichem Baß seine Ode an die Freude sang, kamen tatsächlich andere Töne. Die Philharmoniker zeigten endlich, was in ihnen steckt. Der Schluß war faszinierend: präzis und von Herzen gejubelt. Einfach revolutionär. Stefan Siegert