Auf dem Weg ins programmierte Chaos

■ Das Jahr 1999 ist glücklich erreicht. Für die Welt der Großrechner beginnen nun die letzten reibungslosen zwölf Monate vor dem großen „y2k“. Denn am 1. Januar des Jahres 2000 werden weltweilt viele Computer versagen. Das hat Fachleute zu phantasievollen Horrorszenarien verleitet. Derweil bereiten sich manche US-Bürger mit fast religiösem Eifer auf das Ereignis vor.

Kurz nach Mitternacht stößt ein Vergnügungsdampfer mit einem Tanker zusammen, 269 Partygäste ertrinken im eisigen Wasser des nachtschwarzen Hudson. Das Steuersystem des Tankers war blockiert, gleichzeitig sind im Hafen alle Lichter ausgegangen. Wenig später verursachen falsch geschaltete Signalanlagen mehrere Zugkollisionen in und um New York City. Zug- und U-Bahn-Verkehr werden bis zum 8. Januar stillgelegt. In den Straßen Manhattans bricht der Verkehr zusammen. Das Internet ist neun Tage lang nicht zugänglich. Lokale Sender können nach einem zwölfstündigen Ausfall ihren Betrieb wiederaufnehmen, nationale und internationale Nachrichten von weltweiten Chemieunfällen und Nuklearkatastrophen sickern aber nur unvollständig und als Gerüchte durch.

Ausschnitt aus einem Szenario, das in einem 30seitigen Papier steht, das der britische Katastrophenspezialist Martyn Emery jüngst auf einer internationalen Konferenz zum Problem der Jahr-2000-Computerfehler vorlegte. y2k wird das Problem in den USA abgekürzt – wobei y für year (Jahr) und 2k für 2000 steht. Emery, der zehn Jahre als Desaster- und Wiederherstellungsspezialist für IBM gearbeitet hat, vergleicht das y2k- Problem mit einem Hurrikan, der vor, während und nach dem Durchzug des Epizentrums Verwüstungen anrichten kann – und man tut gut daran, sich auf einem Hurrikan der Klasse Mitch vorzubereiten.

„Der Computerfehler ist simpel“, erklärt Jim Lord, Systemanalytiker und Marineoffizier a.D. bei der US-Navy, „und einfach zu reparieren. Es ist, als gäbe man jemandem eine Dose voller Murmeln und einen Lappen mit dem Auftrag, sie alle blankzupolieren – bis zum nächsten Samstag. Und jetzt stelle man sich weiter vor, nicht eine Dose, sondern der Grand Canyon sei voller Murmeln. Blankpolieren – bis Samstag.“ Für die Programmiererin Sally Strackbein, die seit 1983 auf y2k aufmerksam macht, ist die Sache schwieriger. „Die relevanten Datenbits sind tief in den Millionen Zeilen Quellcodes verborgen. Es ist als wolle man nach einem Kochbuch kochen, das weder Register, noch Inhaltsangabe, noch Seitenzahlen, noch Kapitelüberschriften, noch Absätze hat, und in dem die Zutaten mit Kürzeln bezeichnet sind, zu denen der Schlüssel verlorengegangen ist.“ Sally Strackbein und ihr Mann Ray glauben nicht daran, daß das Problem rechtzeitig gelöst werden kann: „Wir haben einen Holzkamin und Sonnenkollektoren gekauft und legen Vorräte an.“ Die beiden gehen davon aus, daß am 31. Dezember 1999 die Lichter ausgehen. „Nichts wird mehr funktionieren, es gibt keinen Strom, kein Benzin, kein Telephon, keine Nachrichten, keine Nahrungsmittel, nichts wird mehr so sein, wie es war.“ Das Ehepaar aus Virginia gehört zur TEOTWAWKI-Bewegung. Das Kürzel steht für „The End Of The World As We Know It“ (Das Ende der Welt, so wie wir sie kennen). Die amerikanische y2k-Bewegung hat ein buntes Spektrum an Einzel- und Bürgerinitiativen, selbsternannten Propheten und Kassandras hervorgebracht – Weltuntergangspredigern und Aktivisten, für die y2k der Deus ex machina sein wird, der alle Träume und Hoffnungen realisiert, denen Grüne, Umweltschützer und Sozialisten seit Jahrzehnten hinterherrennen. „Wir werden alle lernen, mit weniger auszukommen und mit unseren Nachbarn wieder in Beziehung zu treten“, sagt Paul Martin.

„y2k ist kein Programm, sondern ein Prozeß, ein Lernprozeß, der uns lehrt, auch mit Klimakatastrophe, Energie-, Ernährungs- und Bevölkerungskrise, ja sogar mit den Meteoritenschauern fertig zu werden“, sagt Doug Carmichael. „y2k leitet die nächste Stufe der menschlichen Evolution ein.“ Michael Harden entdeckte im y2k- Problem eine Marktlücke und gründete die Century Technologies Services. Der Fachmann für das Management von Informationstechnologien bietet buchstäblich eine Jahrhundertdienstleistung an. Seine Spezialität ist das Auffinden sog. eingebetteter Systeme: Das sind Chips, die einen Schalter oder Fühler, einen Durchlaß oder Regler, ein Ventil oder Sperrhahn kontrollieren. In einer Datenbank hat er die technischen Spezifikation Tausender solcher Chips sowie deren Hersteller und das Verfahren zu ihrer Reprogrammierung gespeichert. „Zwischen 1975 und 1995 sind 70 Milliarden Chips hergestellt worden“, sagt er. „Nur ein Prozent davon wandert in Computer, die meisten gehen in Kontrollsysteme. 50 Milliarden Chips sind datensensitiv. Von etwa 10 bis 25 Milliarden weiß kein Mensch, wo sie sind.“

Auch Michael Harden ist auf die Jahrhundertwende vorbereitet. Er baut sich in den abgelegenen Bergwäldern West Virginias ein Haus mit Sonnenkollektoren, Kamin und eigenem Wasserfilter. Ein Gewehr kauft er sich auch – um seine Vorräte vor marodierenden Städtern zu schützen, wo die Supermärkte nicht mehr beliefert werden, weil deren Registrierkassen nicht mehr automatisch nachbestellen können und das Leitsystem, das die Lasterflotte der Lieferanten dirigiert, ausgefallen ist.

„Die Presse liebt vor allem Katastrophenszenarien und Geschichten von Überlebenskönnern“, ärgert sich Stephen Davis, der im Montgomery County in Maryland vor den Toren Washingtons für y2k verantwortlich ist. Für ihn ist y2k kein technisches, sondern ein Managementproblem. Vor allem Städte und Gemeinden werden mit dem Problem konfrontiert werden. Sie werden ausgefallene Ampeln und steckengebliebene Fahrstühle reparieren, Renten und Sozialhilfe auszahlen und den Katastropohenschutz organisieren müssen. Sie sind es, die sich auf y2k wie auf einen schlimmen Wintereinbruch vorbereiten müssen.

Für den Psychotherapeuthen Doug Carmichael ist y2k dagegen vor allem ein Beziehungsproblem: „Die y2k-Spezialisten tun alle so, als ginge es um Computer, während die Menschen der Störfaktor seien. Aber nicht um Chips, sondern um Menschen geht es.“ Da trifft er sich mit Leuten wie Paul Kawika Martin, Umweltaktivist von EarthCulture und Mitglied der Washingtoner Grünen. Für Martin bedeutet y2k weniger das Ende der Welt als vielmehr den Beginn eines neuen Zeitalters: „Y2k wird dazu führen, daß sich die Menschen wieder näherkommen, daß sie sich dezentral organisieren, um sich gegenseitig im Notfall zu helfen“. Peter Tautfest, Washington