Deutschland und die Deutschen erklären

■ Emigrant, konservativer Bannerträger und entschiedener Linksliberaler: Zum Tod des großen Publizisten Sebastian Haffner

Viele erinnern sich zuerst an seine Stimme, die etwas zu hohe, etwas gequetschte Stimme des Mannes, der sich Sebastian Haffner nannte. Man hatte sie im Fernsehen, vielleicht auch im Radio gehört, oft im Internationalen Frühschoppen, wo Werner Höfer ihn jahrelang als englischen Kollegen vorstellte. Dabei war er deutscher Emigrant, und das nicht, weil er Jude gewesen wäre – das war er entgegen einem verbreiteten Vorurteil durchaus nicht –, sondern weil seine Freundin Erika nach 1933 plötzlich – trotz aller Ungläubigkeit – als Volljüdin galt.

Also Emigration. Sie zuerst, dann er, Ende August 1938, als die Zeitungen schon voll waren von der Sudetenkrise und ein Krieg in greifbarer Nähe schien. Haffner hieß da noch Raimund Pretzel, so wie sein Vater Pretzel geheißen hatte, der früher Lehrer war und in der Weimarer Republik aufstieg in der preußischen Bildungsbürokratie. Auch für den Sohn, der am 27. Dezember 1907 in Berlin NW 21, Emdener Straße 50 zur Welt kam, standen die Zeichen auf Aufstieg. Das Jurastudium hätte ihn in höhere Staatsämter tragen können – nach eigenem Wunsch auch tragen sollen, doch mit den Nazis wollte er sich nicht einlassen. Er wurde Journalist, schrieb alle möglichen Belanglosigkeiten für Modezeitschriften des Ullstein-Verlages. Mit einem gewissermaßen augenzwinkernd erteilten Reportage- Auftrag konnte er schließlich ausreisen nach England.

Er heiratete Erika, wurde Vater und schrieb ein Buch: „Germany – Jekyll & Hyde“. Dieses Werk, in Deutschland erst 1996 erschienen, ist Zeugnis der Zerrissenheit des Mannes, der sich für seine Arbeit im Exil einen Decknamen zugelegt hatte: Sebastian Haffner.

Er versucht, den Briten die Deutschen zu erklären. Nicht als amüsante ethnologische Fingerübung, sondern als Studie zur Optimierung des Propagandakrieges. „Dieses Buch versucht, der britischen und französischen Propaganda ebenso dienlich zu sein, wie die von Aufklärungsflugzeugen aus aufgenommenen Luftbilder von der Siegfriedlinie (...) von Nutzen sind.“ Haffners sprachliche Brillanz ist – jedenfalls in der deutschen Fassung – kaum zu spüren. Der Text ist weithin langatmig und von gelegentlich peinlicher Banalität: „Der Deutsche ist aufgeschlossen, ißt, trinkt und lärmt gern, er ist herzlich, angenehm, phlegmatisch, ausschweifend, bei der Arbeit und beim Spiel ungewöhnlich gründlich, leicht erregbar, läßt sich aber wieder leicht besänftigen. Doch der gefühlskalte, aufbrausende, absolut unsympathische Hitler mit seinem ständigen Haß, seinem Vegetarismus, seiner Furcht vor Alkohol, Tabak und Frauen, seinem starren Blick und seiner abstoßenden Mundpartie – der Deutsche dagegen hat gewöhnlich einen gutmütigen Gesichtsausdruck – ist eine Anomalie in Deutschland ...“ Dagegen verblüfft ein anderer Satz: „Hitler ist der potentielle Selbstmörder par exellence.“ Was heute als erstaunliche Klarsicht erscheinen mag, mußte 1940 als wilde Spekulation, vielleicht auch als „wishful thinking“ erscheinen. So lag die eigentliche Stärke in dem Versuch, den Kriegsgegner Deutschland differenziert darzustellen, den Dr.Jekyll und den Mr.Hyde im deutschen Volkscharakter zu identifizieren.

Das Buch verschaffte ihm Zugang zur britischen Publizistik. David Astor, Verlegersohn und Deutschlandkenner, holte ihn zum renommierten Observer, wo er mit Antifaschisten und Antikommunisten zusammenarbeitete, mit Arthur Koestler, Richard Löwenthal, George Orwell und Isaac Deutscher. Hier verschob sich der Fokus seiner Aufmerksamkeit: Den Zusammenbruch von Nazi-Deutschland hielt er bereits 1942, zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung, für unausweichlich – allein schon wegen der falschen Kriegsführung Hitlers und seiner Generäle. Welche Rolle aber spielt die Sowjetunion im Nachkriegseuropa? Wie kann sie in Schach gehalten werden?

Haffner, der sich zum kalten Krieger entwickelt, kehrt 1954 als Korrespondent des Observer mit Frau, Sohn und Tochter nach Berlin zurück, weil er hier den Ort der nächsten großen Krise sieht. Und so berichtete er dann vom Bau der Mauer. Doch da hatte er sich mit seinem Verleger bereits überworfen – weil das Blatt in der Berlin- Frage zu weich war. In seiner neuen Rolle als konservativer Bannerträger gefiel sich Haffner nicht lange. Bei der Spiegel-Affäre 1962 nahm er Partei für die Pressefreiheit – Auftakt für den vielleicht radikalsten Meinungsumschwung des inzwischen 54jährigen. Mit einer wöchentlichen Kolumne im Stern profiliert er sich als Linksliberaler und zugleich den Stern als politisch ernstzunehmende Illustrierte. Auf 42 Karteikarten verzeichnet das Gruner+Jahr-Archiv all seine Themen zwischen 1963 und 1976: von „Lebenslänglich in U-Haft?“ über „Vietnam und die Folgen“ bis zum „Deutsch-polnischen Zähneknirschen“. Die Kunst der Zuspitzung hat er da geübt, Polemik und Pointe. Gelegentlich vergaloppiert er sich, aber das sehen ihm selbst seine früheren Gegner nach.

Ernst Cramer etwa, Weggefährte Axel Springers und heute Aufsichtsrat des von Haffner zur Enteignung vorgesehenen Verlags, räumt nicht nur ein, daß Haffner bei der Spiegel-Krise recht, der Springer-Verlag dagegen unrecht gehabt habe. Er attestiert ihm auch, ein scharfer und wichtiger Kommentator gewesen zu sein. Das ist, sagt Cramer, wichtiger als alle Irrtümer. Die Milde des Urteils mag dem Alter der früheren Kontrahenten zuzuschreiben sein; sie könnte auch beeinflußt sein vom Spät- (oder Haupt-?) Werk des Publizisten, das die in den 60er und 70er Jahren aufgebauten Urteile über das „Paradepferd des Ulbricht-Regimes“ zerstörte.

Als der Verleger Helmut Kindler, dem Haffner schon auf den Fluren bei Ullstein begegnet war, ihm vorschlug, etwas auch für Jugendliche Verständliches über die Nazi-Zeit zu schreiben, entstanden die „Anmerkungen zu Hitler“. Politisch irritierend inkorrekt, werden erst einmal Hitlers Leistungen und Erfolge gezeigt. „Von 1930 bis 1941 gelang Hitler innen- und außenpolitisch und schließlich auch militärisch so gut wie alles, was er unternahm, zum Staunen der Welt.“ Dann, dramaturgisch geschickt, die Demontage des Diktators, seine Verbrechen, sein Verrat. Das Buch des inzwischen 70jährigen wird zum Bestseller im In- und Ausland. Weitere Titel folgen, z.B. „Preußen ohne Legende“, ebenso Auftritte in Funk und Fernsehen: Der alte Herr ist ein gerngesehener Gast in politischen Talkrunden.

Langsam befällt ihn – so 1984 die Selbstauskunft im FAZ-Fragebogen – die Angst vor „vorrückender Senilität“. Davon konnte vorerst keine Rede sein. Körperlich geht es zwar bald rapide bergab, doch seine geistige Vitalität blieb ungebrochen. Schon länger zurückgezogen von der Öffentlichkeit nahm er das Interesse an seinem 90. Geburtstag mit Abwehr, Bescheidenheit und Freude auf. Doch sein Lebenswille wich. Längst zum Pflegefall geworden, wurde er im November ins Krankenhaus eingeliefert und starb am 2.Januar 1999, kurz nach Vollendung des 91. Lebensjahrs, ein bißchen älter als Winston Churchill, dessen Biographie er geschrieben und den er so sehr bewundert hat. Christian Walther