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Von David und Goliath

Das Leben aller armen Menschen in Guatemala beschreiben und die Wahrheit, nichts als die Wahrheit erzählen: Was Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú, kürzlich der Lüge und Stilisierung bezichtigt, mit ihrem Lebensbericht leisten wollte und nicht konnte  ■ Von Cristina Nord

Als vor knapp drei Wochen bekannt wurde, daß manche Passagen im Lebensbericht der Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú mit den Tatsachen wenig zu tun haben, zitierte die englische Tageszeitung The Guardian einen nicht namentlich genannten Anhänger Menchús mit folgendem Satz: „Es ist, als hätte sie gesagt, sie sei an einem Donnerstag vergewaltigt worden, wenn es in Wirklichkeit an einem Freitag war. Welchen Unterschied macht das schon?“

Robin Blackburn, der für „Verso“ tätige englische Verleger der guatemaltekischen Quiché-Indigena, führt vergleichbare Argumente ins Feld: „Die Naivität liegt nicht auf seiten derer, die das Buch gelobt haben, sondern bei denen, die jetzt versuchen, es zu diskreditieren. Nahmen sie tatsächlich an, daß Menchú – nur weil sie vom Land kam – Rhetorik und Metaphern nicht zu benutzen wußte?“

Donnerstag oder Freitag, Rhetorik und Metaphern: Lassen sich die Vorwürfe, die gegen Menchú und ihren 1983 veröffentlichten Lebensbericht „Me llamo Rigoberta Menchú y asi me nació la conciencia“ (dt.: „Rigoberta Menchú. Leben in Guatemala“) laut wurden, so leicht entkräften? Oder nagt das, was der US-amerikanische Anthropologe David Stoll nach mehrjähriger, akribischer Recherche herausgefunden haben will (vgl. taz vom 17.12.98), doch stärker an der Glaubwürdigkeit einer Figur, die bis vor kurzem über jeden Zweifel erhaben schien?

Im Unterschied zu zahlreichen anderen Protagonisten linker Politik in Lateinamerika – die Sandinisten Daniel Ortega oder Tomás Borge stellen nur ein Beispiel dar – geriet die Integrität der heute 39jährigen bisher nicht in Verdacht, waren ihr und ihrem Engagement für die indigene Bevölkerung Guatemalas die Sympathien stets gewiß.

Zu Tode malträtiert oder bloß erschossen?

Nun, da Stolls Untersuchung „Rigoberta Menchú and the Story of All Poor Guatemalans“ erschienen ist, könnte sich dies ändern. Der Anthropologe, der in Guatemala mit 120 Zeitzeugen gesprochen hat, bezichtigt Menchú der Lüge und der Selbststilisierung. Sie habe Fakten verdreht und sich als Augenzeugin ausgegeben, wo sie nicht habe anwesend sein können. Nicht die ungebildete, des Spanischen kaum mächtige Person sei sie gewesen, als die sie sich im Lebensbericht inszeniert. Statt dessen, so erinnert sich ein Bruder, habe sie katholische Internate besucht. Ein weiterer Bruder, der angeblich vor ihrer Geburt an Unterernährung starb, erfreue sich bester Gesundheit.

Der Landkonflikt, der im Buch eine wichtige Rolle spielt, gehe auf den Streit zwischen zwei Bauernfamilien zurück, nicht auf einen Konflikt zwischen armen Indigenas und europäischstämmigen Großgrundbesitzern. Und schließlich übertreibe Menchú, wenn es um die Foltermethoden der Militärs geht; ein dritter Bruder, im Buch als Opfer brutaler Tortur dargestellt, sei in Wirklichkeit erschossen worden.

Erschossen oder zu Tode malträtiert? Was Stoll hier anführt, erinnert zweifellos an den Einwand, den Menchús Anhänger in The Guardian formulierte: Welchen Unterschied macht das? Zumal an der Tatsache, daß Menchús Eltern von den Militärs umgebracht wurden, kein Zweifel besteht und niemand ernsthaft behaupten wollte, daß die indigene Bevölkerung des mittelamerikanischen Landes in menschenwürdigen Verhältnissen gelebt hat. Erst 1996, vier Jahre nachdem Menchú den Nobelpreis erhalten hatte, fand der 36 Jahre andauernde Bürgerkrieg ein Ende; Armut, Rassismus und der Mangel an demokratischen Strukturen waren damit nicht automatisch aus der Welt.

Vor diesem Hintergrund muten weniger Menchús Memoiren als Stolls Vorwürfe übertrieben und deplaziert an: Aus der abgesicherten Position des Akademikers heraus macht sich da einer daran, eine linke Identifikationsfigur zu stürzen – als hätten Demontagen dieser Art nicht längst inflationäre Züge angenommen.

Doch ganz so klar liegen die Dinge nicht. „Rigoberta Menchú. Leben in Guatemala“ erfindet und stilisiert, arbeitet mit den Mitteln der Fiktion – da hat Stoll ganz recht. In diesem Zusammenhang auf Rhetorik und dichterische Freiheit zu verweisen, wie es der Verleger Blackburn tut, blendet jedoch Wesentliches aus. Denn wenn das Buch etwas gerade nicht sein will, dann ein literarischer Text. „Rigoberta Menchú. Leben in Guatemala“ zählt zur Gattung der Testimonial- beziehungsweise Zeugnisliteratur, die den Anspruch auf Authentizität bereits in ihrem Namen führt.

Erinnerungen und Inszenierungen

Wer sich, sei's aus Naivität, sei's aus Kalkül, darauf beruft, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu erzählen, dabei jedoch seine Vorstellungskraft walten läßt, zieht mit gutem Grund Kritik auf sich. Und wer aus seiner eigenen Geschichte die Fabel von David und Goliath webt, um klare Fronten zu schaffen, muß sich nicht wundern, wenn Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit aufkommen. Dabei sind Inszenierungen in einem Lebensbericht egal welchen Genres zunächst unvermeidlich, folgen Erinnerungen ganz automatisch einer Formung, die ein glattes, kohärentes Bild anstrebt. Die Frage, wie die Selbststilisierung ausfällt, ob sie sich beispielsweise zu erkennen gibt oder verschleiert wird, ist damit noch nicht beantwortet. Sind zwei Instanzen am Werk wie bei der Testimonialliteratur, wo ein Autor die mündliche Rede seines Gesprächspartners in einen schriftlichen Text überführt (im Fall Menchús die französisch-venezolanische Anthropologin Elisabeth Burgos Debray, die das Buch aus 25 Stunden Tonbandaufzeichnungen gewann), so läßt sich zwar ahnen, daß ein Graben zwischen der Geschichte im Buch und der Realität verlaufen muß. Transparent gemacht wird dies jedoch in den wenigsten Testimonios.

Die dezidiert politischen Absichten, mit denen sich viele Testimonio-Autoren tragen, forcieren dies noch. So gab sich Miguel Barnet, der als einer der Begründer des Genres gilt, mit „Biografia de un cimarrón“ (1966, dt. erstmals 1970: „Der Cimarrón. Die Lebensgeschichte eines entflohenen Negersklaven aus Cuba, von ihm selbst erzählt“) große Mühe, die Rebellion seines Protagonisten kompatibel zur kubanischen Revolution zu gestalten. Daß er zugunsten dieser Folie vieles ausließ, anderes überbetonte und wieder anderes erfand, liegt auf der Hand. Und natürlich führte auch der Versuch, aus Esteban Montejo, dem Protagonisten und Ich-Erzähler des Testimonios, eine exemplarische Figur zu machen, zu einigen Verzerrungen.

Das Leben aller Menschen erzählen

Burgos Debray und Menchú erheben ähnliche Ansprüche wie Barnet. Zu Beginn des Testimonios heißt es: „Wichtig ist allein – und das möchte ich hervorheben –, daß ich nicht nur mein eigenes Leben beschreibe, weil nämlich viele Menschen dieses Leben gelebt haben: es ist das Leben meines Volkes. Durch meine Geschichte will ich versuchen, das Leben aller armen Menschen in Guatemala zu beschreiben.“ Nicht als Individuum, als Stellvertreterin eines ganzen Kollektivs tritt Menchú in den Text: eine klassiche Pars-pro- toto-Figur.

Projektionen des westlichen Publikums

Innerhalb dieser Logik hat es dann durchaus Sinn, wenn in dem von Stoll als Erfindung eingestuften 23. Kapitel, überschrieben mit „Folterung und Ermordung des jüngeren Bruders, der zusammen mit anderen vor den Augen des ganzen Dorfes und seiner Angehörigen lebendig verbrannt wird“, alle nur erdenklichen Qualen aufgelistet werden. Was der Bruder hier erleidet, ist die Summe all dessen, was den guatemaltekischen Indigenas zugefügt wurde – und so drastisch wird dies ausgemalt, daß dem Leser kein Raum zur distanzierten Betrachtung bleibt.

Mit solchen Schilderungen sicherte sich Menchú schrankenlose Sympathie, erstickte sie – vermutlich ohne Kalkül – jede Diskussion im Ansatz, bediente sie die Erwartungen eines westeuropäischen und nordamerikanischen Publikums, dessen Sehnsucht nach revolutionärem Handeln im eigenen Land ungestillt blieb. Um so dringlicher bedurfte es einer Projektionsfläche, die Texte wie „Rigoberta Menchú. Leben in Guatemala“ oder Omar Cabezas „Die Erde dreht sich zärtlich, compañera“ bereitstellten. Je klarer darin die Linie zwischen Gut und Böse verlief, desto leichter fiel die Anteilnahme, desto schwerer die Reflexion.

Versionen der Vergangenheit

Die von Stoll vorgebrachten Kritikpunkte könnten nun dazu dienen, solche Mechanismen freizulegen. Ohne die Rechtmäßigkeit von Menchús Engagement, ohne ihr zweifelsfrei großes persönliches Leid in Frage zu stellen, muß es möglich sein, die ambivalenten Seiten eines Textes wie „Rigoberta Menchú. Leben in Guatemala“ – und damit der Testimonialliteratur insgesamt – anzusprechen. Wenn sich heute von den 120 Menschen, die Stoll interviewte, kaum einer in Menchús Schilderungen wiederfindet, so zeigt sich deutlich, daß deren Version nur eine neben vielen anderen darstellt – und eben nicht, wie Burgos Debray im Vorwort zur spanischsprachigen Ausgabe des Testimonios behauptet, diejenige, die „das Leben aller Indianer des amerikanischen Kontinents verkörpert“.

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