Arztroman, Folge 5: Arm dran, Bein ab Von Fanny Müller

Hätten meine Bekannten mich gesehen, würden sie um meine Psyche gefürchtet haben. In den Gängen, im Aufzug, beim „Sport“ – der auf Hockern stattfindet – die Augen stets sittsam gesenkt und immer die Klappe gehalten. In Wirklichkeit wollte ich bloß keinen wiedererkennnen und dann womöglich grüßen müssen („Mahlzeit“).

Aber jetzt ist der letzte Tag angebrochen! Morgen geht es nach Hause, hurra! Da stört es mich auch gar nicht mehr, daß ich beim Frühstücken – das Frühstück kriege ich aufs Zimmer, sonst hätte ich schon längst gekündigt – daß sich also im NDR 2 in der Sendung „Spaß bei der Arbeit mit NDR 2“ das Orthopädische Fachgeschäft Völler-Prothesen einen Schlager wünscht, der dann auch noch abgespielt wird und der mich normalerweise dazu veranlaßt hätte, das gesamte Mobiliar zu zerschlagen.

Zum Abschied schnell noch in der reporter geblättert. Wer weiß, ob ich in Hamburg noch einmal solche Sternstunden des Journalismus erleben darf: „Besser Arm dran als Bein ab. Jeder kennt diesen Spruch. Trotzdem gibt es Menschen, die aufgrund einer chronischen Erkrankung oder eines Unfalls zum Beispiel ein Bein verloren haben und...“ Fällt mir ein: Besser Kopf dran als Arsch ab. Jeder kennt diesen Spruch. Trotzdem gibt es Menschen, die sich aufgrund einer chronischen Erkrankung an die Schreibmaschine setzen und... Gestern abend im Speisesaal fragt mich die höhere Tochter, warum ich den Aufenthalt nicht verlängert habe. „Das hätte ich nicht ausgehalten“, erwidere ich wahrheitsgemäß. „Das ist in Ihrer Lage vielleicht auch besser...“, erwidert die dumme Nuß. Eine Unverschämtheit! In meinem ganzen Leben war ich noch nicht „in einer Lage“. Hört sich ja an, als würde ich mich unverheirateterweise und sozialhilfeempfangend in anderen Umständen befinden. „Ich“, fährt sie unverdrossen fort, „...ich kriege ja dreimal die Woche Besuch von meiner Familie...“ Ha! Ich kriegte sogar viermal in der Woche Besuch, aber meine Besucher sahen weder nach Ehemann noch nach Kindern, noch nach Enkeln aus (dafür aber besser), und damit war ich raus aus dem Wettbewerb. Ihre Familie bestand aus einem 86jährigen Gatten in Lodenmantel und Lodenhut und einer verbitterten Tochter um die Fünfzig mit vorgeschobener Unterlippe. Der einzige Enkel studiert Betriebswirtschaft, ward aber als Besucher von keinem menschlichen Auge gesehen. Vermutlich hat er Input und Output ausgerechnet: Wenn das Erbe so und so sicher ist, warum sich dann ein Bein ausreißen...? Betriebswirtschaft! Die sind doch alle bescheuert, das weiß jeder.

Der letzte Tag – da heißt es auch ein Fazit und dann eine Lehre daraus ziehen. Positiv: Das Personal ist jung und sieht gut aus, und die Oberschwester ist ersetzt worden durch eine „Pflegeleitung“, die meist unter Dreißig ist und ein anständiges Benehmen hat.

Negativ: Oberschwestern sind ausgestorben. Sie wissen ja – diese Dragoner in gestärkten Häubchen und Gesundheitsschuhen aus den Dieter-Borsche-Filmen, die selbst den Chefarzt zum Weinen bringen (nicht die Filme). Die hätten mir besseren Stoff geliefert. Daraus lernen wir, daß das Leben kein Film ist. Ich hatte es ja schon beinahe geahnt, aber daß ich dafür nun acht Wochen im Spital verbringen mußte...