Ein Imperium für zu Hause

■ Die Sehnsucht, die Welt neu zu ordnen: Einen ganzen Abend lang begibt sich Arte in die seltsamen Privatuniversen der Sammler ("Die Leidenschaft des Sammelns", ab 21.35 Uhr)

Die Welt ist ein Labor, und wir sind die Forscher“, sagt Michael Berger, der gemeinsam mit seiner Frau Ute eine gigantische Sammlung von Alltags- und Werbeobjekten zusammengetragen hat: Coca-Cola-Schilder, Micky-Maus-Figuren, Büroklammern, Musterkoffer etc. Hundertausende von Objekten haben die beiden seit Jahrzehnten gesammelt und ihr Haus zu einem Museum der vergehenden Realität gemacht. Ein Hort des Gewöhnlichen, das hier zum Besonderen wird, weil es neu geordnet auftritt.

Der Grundantrieb des Sammelns ist Unordnung. Nur der Sammler erkennt, daß sich die zerrissene Welt in Teilen zusammenfügen läßt. Egal, ob die Leidenschaft Puppen oder Büchern gilt, der Sammler besitzt einen sehr inviduellen Blick auf die Wirklichkeit und schafft sich ein privates Imperium, das er allein beherrscht. Es ist der Versuch einer Totalität im Banalen, die dem Sammeln stets etwas Lächerliches und zugleich Größenwahnsinniges gibt. Denn nur selten akzeptiert die Umwelt des Sammlers seine extreme Sicht auf die Realität. Warum spielt der Sammler mit ihr wie ein Kind? Warum ordnet er sein Leben einer absurden Suche nach Vollständigkeit unter, die kaum zu erreichen ist?

Fragen, die der Arte-Themenabend „Die Leidenschaft des Sammelns“ mit vier Filmen beantworten will. Neben dem französischen Kurzfilm „Murmeln“ von Rémy Daguerre (um 22.30 Uhr) und der fiktiven Dokumentation „Die geheime Sammlung des Salvador Dali“ von Otto Kelmer (um 23.30 Uhr) sind es zwei neu produzierte Dokumentarfilme, die den Blick in die bizarre Welt der Sammelns öffnen: „Wenn man einmal anfängt“ von Kolin Schult (um 21.35 Uhr) und „Die unstillbare Sehnsucht des Dr. Speck“ von Thomas Schmitt (um 22.40 Uhr). Beiden ist gemeinsam, daß sich die Autoren ganz zurücknehmen. Nur die Sammler kommen zu Wort. Die Zuschauer sollen ihr eigenes Urteil über diese Welt entwickeln.

Kolin Schult porträtiert sechs Sammler, die ihre Sehnsüchte, aber auch ihre Verwunderungen über sich selbst schildern. Warum überhaupt sammeln, wie beginnt es? Äußerst geschickt bringt Schult die unterschiedlichen Charaktere dazu, zum Kern ihrer Leidenschaft vorzudringen. Daß es eventuell ein Ersatz sei, daß aber gerade diese Konzentration auf einen Ersatz das wirkliche Leben ausmacht: So betont Coca-Cola- Sammler Berger immer wieder, daß er sich des Scheins der Werbewelt bewußt ist und diesen in seinem Privatmuseum dokumentieren möchte.

Besonders im zweiten Dokumentarfilm „Die unstillbare Sehnsucht des Dr. Speck“ tritt ein wesentlicher Grundzug des Sammlers hervor: die Eitelkeit. Der Kölner Urologe Reiner Speck ist einer der bedeutendsten Kunstsammler Deutschlands und Vorsitzender der Marcel-Proust-Gesellschaft. Als Ausgleich zu seiner medizinischen Unterleibstätigkeit hat er eine der größten Sammlungen von Proust- und Petrarca-Ausgaben zusammengetragen. Thomas Schmitts Porträt wird zu einer beeindruckenden Studie des gebildeten Sammlers, der „ähnlich wie sich ein Kranker mit seiner eigenen Krankheit befaßt“, jeden Tag bis an die existentiellen Grenzen vordringt. Und das ist eine Antwort, die dieser Arte-Abend liefert: Die Welt im Sammeln neu zu ordnen bedeutet, existentielle Grenzen zu überschreiten. Michael Ringel