In Kalkar mit Kernie und Kurt

Klettern, schwimmen, staunen, saufen oder über Schrottberge stolpern: 24 Spaß-Stunden im „Kernwasser Wunderland“ kosten viel Energie. Der Feuerwehrmann und Touristenführer Kurt Janssen hätte lieber den Brüter wieder  ■ Von Bernd Müllender

Sind 120 Mark viel Geld? Geschmackssache. Man kann dafür zehn gute Flaschen Wein kaufen. Oder eine Markenjeans. Oder eine zweiwöchige All-inclusive-Reise in die Karibik buchen: Der Tag kommt dann auf etwa 120 Mark. Oder man fährt gleich nach Kalkar: 24 Stunden in die Ruine des Brutreaktors pauschal mit Übernachtung, diversen Vergnügungen, Essen und Saufen bis zum Limit, Staunen, Wundern. Alles inklusive.

In Kalkar kann man dann auch Kurt treffen. „Kommen Se mit“, sagt er und geht vor. Kurt Janssen (60), unser Führer, geleitet uns an diesem naßkalten Wintermittag durch die Anlage. Gut 50 Leute hat er im Schlepptau. Sie kommentieren Kurts wortreiche Erklärungen und begeisterte Zahlenkaskaden mit mannigfachem Ah und Oh: Ist ja unglaublich. Toll! Nein wirklich? Meine Güte. Booaah.

Der schnelle Brüter. Das Ding, das nie wurde. Absurdestes Kernkraftwerk Deutschlands, das clevere Subventionäre der Baufirma Siemens und der Betreibermutter RWE, verblendete Politiker und tolldreiste Ingenieure zum atomaren Perpetuum mobile machen wollten. Plan-, Bau- und Protestzeit: rund 20 Jahre. Kosten: acht Milliarden Mark. Ernergieerzeugung: null. Als 1991 alles fertiggebastelt war, erschien das Höllenfeuer nicht mehr vermittelbar, ein Auslaufmodell. Ein Riesensieg für die zähe Anti-AKW-Bewegung, darunter die unbeugsamen Einheimischen um den Bauern Maas (siehe Portrait).

Unterwegs erzählt Kurt die Geschichte. Aus seiner Sicht. Daß schlichte 1,7 Milliarden geplant waren, dann aber „alles durch die Demonstrationen und Sicherheitsauflagen verzögert wurde“. Und teurer. Er weist auf den Betonzaun rundherum, ehedem mit Wassergräben, Flutlichtbestrahlung, lükkenloser Videoüberwachung: „Hunderttausend Mark der Meter, zwei Kilometer insgesamt – können Se mal ausrechnen.“ Man booaaht erneut kopfschüttelnd. Kurt erklärt technische Details und serviert bauliche Gigantismen: „Alles wurde mit viel Liebe verarbeitet.“

Die Strommaschine, die atombombenfähiges Plutonium239 hätte erbrüten sollen, ist zur Kirmesbaustelle geworden. Der holländische Schrotthändler und Freizeitparkfex Hennie van der Most hatte vor drei Jahren die Ruine gekauft. Für rund drei Millionen Mark, nicht eben sehr viel. Seitdem weidet er die rohstoffgefüllten Stahlbetonkolosse aus und installiert sein Projekt „Kernwasser Wunderland“. Ein Vergnügungspark der Superlative, „ein Weltereignis“, sagt van der Most.

Im Kühlturm, 45 Meter hoch, wird man bald, kündet Kurt, schwimmen können und Tretboot fahren. Oben soll ein Fesselballon bis auf 150 Meter aufsteigen. Eine Seilbahn soll einmal quer durchs 30 Hektar große Gelände verlaufen, vorbei an Kirmesbuden, Achterbahn, Spaßbad, Streichelzoo, hin „zu einem schönen Jachthafen am Rhein“. Einiges gibt es schon: 18 Golfbahnen, Cartbahn, Quadbahn, Tenniscourts, einen Fußballplatz. Die ersten 120 Hotelbetten im alten Verwaltungsgebäude sind an den Wochenenden auf Monate ausgebucht. Großbaustelle Kalkar: Wir lustwandeln vorbei an Schrottbergen und metallenen Lüftungsrohrteilen, groß wie Pkws. Alle Teile überdimensioniert, nirgendwo sonst zu gebrauchen. Also: Raus damit und recyceln zum Tonnenpreis.

Dahinter das Kongreßzentrum, wo die Tagungsräume „BiblisA“ heißen oder „Salon Würgassen“. Auch der grüne Landesparteirat hat hier neulich getagt. „Aber nicht in diesen Tagungsräumen“, verteidigt Kalkars Fraktionschef Willibald Kunisch die Ortswahl, „da fehlt ja nur noch der Kongreßsaal Tschernobyl.“ Wunderland- Sprecherin Melanie Ostermann erzählt später vom kürzlichen Revival-Treffen einer niederländischen Anti-Atom-Gruppe. „Völlig fassungslos“ seien die gewesen, was aus Kalkar geworden sei. Eigentlich, sagt Ostermann, verdanke sie auch denen ihren heutigen Job. 180 Leute arbeiten hier, davon 120 auf 620-Mark-Basis. Ausbildungsplätze: keine. Ist das wenig?

Rein in den Reaktorblock, rauf, runter, durch Labyrinthe ohne Ende. Acht-hun-dert Räume, sagt Kurt. 800, echoen die Besucher. Vorbei an Notfalltelefonen, die auch im Raumschiff Orion hätten hängen können. Überall dick gebündelte Kabelstränge sonder Zahl. Sie hätten zweimal die Erde umspannen können, erzählt Kurt. Kurt preist Turbinen, Generatoren, Erregermaschinen, Kisten, Kästen und die Schutzwände bis 12 Meter Dicke. „Die sind gegen die Gammastrahlen. Die Alphastrahlen könnte man auch mit einem Blatt Paier abhalten.“ Vereinzelt säumen Graffiti unseren Weg: „8 Milliarden für nichts“ und „Weg mit der Atommafia“. Eine leere Aspirin-Schachtel liegt im Eck, woanders eine Kondomverpackung. Ob Liebe hier Spaß macht?

Wo auch immer Kurt uns hinführt, Kernie ist schon da. Kernie (siehe Abbildung) ist das Maskottchen des Wunderlandes mit dem putzigen Atome-Kränzchen über dem Köpfchen. Kernie ist überall; auf Prospekten und Wegweisern, Kernie als Aufkleber an jeder Ecke, und auch Kernie zeigt, mahnt, erklärt. Kernie wirkt wie Kurt als Comicfigur.

Im Reaktorblock sollen entstehen: Theaterbühne, Kernwasser- Kino, Shopping Mall, Badminton- und Squashplatz, Billardsaal, Spaßbad, Saunalandschaft, Kinderparadies, ein Dampfmaschinenmuseum, noch ein Hotelkomplex (geplante Bettenzahl: rund 1.200), ein Riesenrad; daneben eine Superdisko in der erdbebensicheren Steuerzentrale hinter beruhigenden sechs Metern Beton. „Ich würd' mich nicht wundern“, sagt Kurt, „wenn unser Holländer hier noch einen Haufen Sand reinschüttet und den Strand von Maspalomas nachbaut.“ Da lachen alle sehr. Kostenkalkulation ohne Sand: 60 bis 80 Millionen. Viel? Kaum ein Hundertstel Brüter.

Kalkars High-Tech-Friedhof ist auch integrierter Abenteuerurlaub. Man kann, auch nachts im Stockdunkeln, im Reaktorgebäude herumlaufen und sich den Kopf blutig schlagen. Man kann auch problemlos in ungesicherte metertiefe Gruben stürzen, über die Schrotthalden stolpern oder in die neckisch herumplätschernden Brüterbegleitzierdegewässerläufe purzeln. Oder, wie es eine Gruppe Holländer machte, sich im Mondschein angetrunken vom Kühlturm abseilen. Als aufgewecktes Kleinkind kann man die Treppen zum Kühlturm hochklettern, an den ersten brüstungsfreien Rand in vielleicht zehn Meter Höhe treten und der todeserschrockenen Mutter ein fröhliches „Hallo, Mama!“ entgegenpiepsen. „Dat dat alles einfach so auf is“, sagt eine wütend nach glücklicher Rettung ihres Knirpses, „un dat in Deutschland...“

Offenbar ist die Gewerbeaufsicht im Kreis Kleve mäßig emsig. Oder ist sie für holländische Glücksbringer nicht zuständig? Kurioserweise steht im Buchungsvertrag groß gedruckt, daß die „einheitlichen Bedingungen des niederländischen Hotel- und Gaststättenverbandes“ gelten. „Ein Versehen“, bedauert Sprecherin Ostermann. Lokalpolitiker Kunisch erzählt von nachgebauten Billigspielgeräten ohne TÜV-Zertifikate in diesem „Disneyland für Arme“ und motzt: „Alle im Kreis gucken weg, was hier passiert. Alle sind wie im Trancezustand, geblendet vom van der Most mit seiner Vergnügungsburg.“ Der feine Investor, erinnert sich Kunisch, war „gezielt bäuerlich gekleidet“ aufgekreuzt, als es im Rathaus um die entscheidende Zustimmung für seine Pläne ging.

Der Reaktorschacht. Auf Gitterrosten stehend, starren alle in die Tiefe, wo es bläulich funkelt und Dutzende heruntergefallene Besucherhelme mit Kernie-Logo liegen. „Da sollten die Plutonium- Tabletten rein“, sagt Kurt und zeigt einen Originalbrennstab: „Aber keine Sorge, alles garantiert strahlungsfrei.“ In die Halle soll ein Konzertsaal, der Brutschacht wird zum Tieftauchbecken. 60 Liter Natrium, erzählt Kurt, haben sie am Ende nicht mehr abgepumpt bekommen. 60 Liter. Ist das viel?

Genau genommen zeigt Kurt nicht das werdende Wunderland, sondern er holt das Gestern zurück. Immer wieder fällt er in den Präsens: Wie wohldurchdacht diese und jene Sicherheitsvorkehrung ist. Wo die Brennstäbe sind. Welche Kühlsysteme sich wo befinden. Kurt Janssen hat in der Brutbaustelle lange Jahre gearbeitet; an seiner roten Jacke baumelt noch, wie eine Reliquie, der alte Werksausweis Nr.140. Kurt war Leiter der Werksfeuerwehr.

Mit der Helmpflicht nimmt es aber auch Kurt nicht so ernst. Für einige BesucherInnen scheint selbst die größte Größe viel zu klein, so einen Schädel, prahlen sie, hätten sie noch vom Abend. Da war man im Westernsaloon, einer Räumlichkeit für gut 400 Alkoholfreunde, wo es recht hoch herging. Im ausladenden Kellergewölbe trafen sich die Hotelgäste (Kegelclubs, Skatvereine, Sangesfreunde) mit Horden vergnügungsbereiter Menschen aus dem Umland, die bis 2 Uhr die 45 Mark Pauschalpreis engagiert wegtranken. Musikalischer Höhepunkt war die Promille-Hymne „Und wir haben ein Idol: Haaarald Juuuhnke“. Zwischendurch vergnügte man sich mit Tontaubenschießen (auf Video-Großleinwand) und lustigem Hufeisenwerfen (in echt). Dazu wurden Hähnchenkeulen und Spare Ribs kesselweise angeschleppt. Alles inklusive. Einer der allgegenwärtigen Security-Sheriffs hatte im wummernden Saloon erzählt, wie „wenig Ärger“ es gebe durch Freibier und Gratiswhiskey – das sei „irgendwie friedstiftend“. Einer brüllt vom Tresen: „Leute, ich geb' ne Runde!“

Ende der zweistündigen Intensivführung. Kurt wärmt sich im Restaurant bei einem Kaffee auf. Vom abgewickelten Gestern zu erzählen, das „tut mir jedesmal richtig in der Seele weh“. Der Brüter war auch sein Baby, ein Stück seines Lebens. „Aber wat sollet?“ fragt er in niederrheinischer Tiefenphilosophie, jetzt sei er Rentner und mache hier nebenbei seinen 620-Mark-Job. Und erzählt der Nachbarin von seinen Enkeln. Draußen sammelt sich schon die nächste Gruppe.

Nebenan im düsteren Foyer hat die Hotelleitung derweil wieder ein Tablett Sektgläser abgestellt, darin dieses blubbernde Getränk intensiv türkiser Farbe. Es ist Kernies Begrüßungsdrink und heißt „Kernwasser“. Als Souvenir steht der dunkelblau schimmernde „Reaktor-Geist“ hoch im Kurs. Deutscher Weizenkorn. Der kostet allerdings. Literpreis 75 Mark. Ist das viel?

Nein! Hennie van der Most muß Geld verdienen für neue deutsche Wunderländer. Schon 2010 könnten wir uns im stelzengespickten Ruinen-Museum des Transrapid treffen oder in der verlassenen Wüste von Garzweiler, dem größten Spaßbad in der Geschichte des Wassertropfens. Die Comicfiguren heißen dann Rapid-Ex und Garzi. Und einen Kurt werden wir auch finden.