■ Schlagloch
: Ich lasse blicken Von Nadja Klinger

„Aber das Entscheidende an diesem Jahrhundert ist wahrscheinlich, daß es uns das Träumen und die großen Hoffnungen ausgetrieben hat. Deswegen schauen wir lieber zurück als nach vorn.“ „Der Tagespiegel“, am 3.1.1999

Wenn ich so etwas lese, schneide ich es aus und befestige es an meinem Schreibtisch. Der in meiner Nähe klebende Satz ist dann mein Satz. Obwohl er nichts mit mir zu tun hat. Beispielsweise, weil das Jahrhundert schon fast vergangen war, als es hätte damit beginnen können, mir Träume oder große Hoffnungen auszutreiben.

Dennoch spricht er für mich, der Satz. Für die Tatsache, daß ich nicht die Tage bis zum Regierungsumzug zähle. Dafür, daß ich mich aus den Diskussionen raushalte, in denen es darum geht, wie die Welt zu retten ist. Daß ich keinen Gedanken an die Einführung des Euro verschwende. Daß ich meiner Tochter nicht sagen kann, woran ich glaube. Analytische Zeitungsartikel stapeln sich auf meinem Tisch. Ich will sie in Ruhe lesen, komme ewig nicht dazu. Dann feiere ich Geburtstag: neun Wochen mein Stapel. Er hat sich erledigt. Ich schaue nicht besonders gern zurück. Aber nach vorn, etwa auf die Jahrtausendwende, schaue ich schon gar nicht.

Das alles spricht der Satz für mich aus, und ich wünschte, er wäre bei mir gewesen, als ich kürzlich durch die Infobox auf dem Potsdamer Platz ging und eine Frau mit einer Fernsehkamera im Schlepptau mich fragte, worin ich die Zukunft von Berlin sehe. Ich blickte in Tausende Fernsehaugen, wurde rot und schwieg. Später, als ich das Waschbecken der Damentoilette mit meinem persönlichen Krempel belegte, stand die Frau wieder neben mir: „Ach, Sie sind von der Presse?“ Ich nickte. „Dann dürften sie doch um einen Ausblick nicht verlegen sein“, sagte sie.

Ich sah aber nichts als den Potsdamer Platz. Vielleicht ist das der „klassische Ort des neuen Berlin“, wie Klaus Böger, der hiesige SPD- Fraktionsvorsitzende, sagt: „Er steht für das Glück der Deutschen, nach Fehlschlägen im Jahrhundert eine neue Chance zu bekommen.“ Vielleicht war der Potsdamer Platz einst „das Symbol der Teilung der Stadt“ und wird heute – uneuphorisch wie es Walter Momper, der ehemalige Regierende Bürgermeister, sagt – „wieder zugebaut“. Vielleicht. Ich werde es wissen, wenn er fertig ist.

Um die Sätze, die an meinem Schreibtisch kleben, beneide ich die Leute, die sie gesagt haben. Ich beneide auch Gunda Röstel. Sie hat ein völlig unverkrampftes Verhältnis zu schönen Aussagen, sie ist so locker, daß sie erst gar keine macht. Und ich habe auch eine Idee, woran das liegen könnte.

Gefragt, wie sie sich den Beginn des nächsten Jahrtausends vorstellt, gibt sie eine einfache Skihütte in den bayerischen Alpen an. „Ich freue mich schon darauf, wie wir mit meinem Mann, unseren Kindern Marthe und Tobias in 1.700 Metern Höhe sitzen und auf die Welt runterschauen. Ich spiele Gitarre und wir singen: ,Alle Jahre wieder‘.“ Die relativ bescheidene Höhe des Berges und das unspektakuläre musikalische Repertoire klingen nicht übertrieben. Eher glaubwürdig. Aber wie hört sich das Ganze denn an! „Wenn wir uns warmgesungen haben“, sagt Röstel, „schmettern wir ein ,Rote Lippen soll man küssen‘.“ Da fällt mir Heidi ein. Wie sie im Unterhemd in den Wald läuft und mit den Bäumen spricht. Das paßt aber irgendwie nicht zu 2000. Lieber ließe ich mir mit schönen Worten nachsagen, daß mir das Jahrhundert auch noch das Küssen ausgetrieben hat.

Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Gunda Röstel und mir. Die Welt, auf die die Grüne von der Skihütte aus heruntersieht, hat sie sozusagen im Griff. Mit der Macht in ihren Händen kann sie etwas für die Zukunft ausrichten, ich kann das nicht. Deshalb habe ich eine andere Sehweise entwickelt: Ich registriere, welche Ausblicke im Angebot sind, und verhalte mich dazu. Ich blicke nicht von Skihütten herab – ich lasse blicken.

Es komme mir jetzt bitte keiner mit der Rolle des einzelnen in der Gemeinschaft. Viele kleine Schritte sind ein großer und so. Das würde ja bedeuten, daß zwischen uns allen ein Zusammenhang besteht. Angefangen bei der Familie. Meine hat sich wie auf ein Kommando hin mit dem Ende der DDR aufgelöst. Damals gab es auch einen Satz an meinem Schreibtisch: „Jetzt werden wir so verschieden, wie wir es immer waren.“ Der hatte nichts mit uns zu tun, denn wir hielten zusammen. Wir wußten nur nicht, wie wir zusammenhalten und gleichzeitig miteinander reden sollten. Also haben wir letzteres einfach vermieden. Nur 1998, in einem Zustand leichtsinniger Euphorie, habe ich noch einmal gefragt, wen meine Verwandten so wählen. Es kommt vor, daß die Sätze an meinem Schreibtisch sich erledigen, dann reiße ich sie ab.

Auch die Mieter unseres Hauses hängen in keiner Weise miteinander zusammen. Einmal haben wir uns versammelt. Seitdem weiß jeder von jedem, wie lange er hier wohnt. Die Alten respektieren die Jüngeren und umgedreht. Mehr wollen wir voneinander nicht. Nur einmal steckte ein Zettel in jedem Briefkasten, darauf ein Satz: „Der Mensch hat das Netz des Lebens nicht gewebt, er ist nur ein Strang dieses Netzes. Was immer er dem Netz antut, tut er sich selbst an.“

Was der einzelne tut, steht in dieser zusammenhanglosen Zeit jedoch auch in keinem Verhältnis zu dem, was er sonst noch tut. Ich kenne politische Leitartikler, die jahrelang an dem Prinzip scheitern, nach dem man den Müll trennt. Ich kenne Berlin-Fanatiker, die keinen Meter ohne Auto zurücklegen. Ich kenne Stadt-Politiker, die nichts dafür tun, daß die Fahrkarten für öffentliche Verkehrsmittel billiger werden.

Die Deutschen sind, laut einer Umfrage, so optimistisch wie seit langem nicht mehr. Jeder zweite Bundesbürger geht hoffnungsvoll in das neue Jahr. Der Regierungswechsel habe den Bürgern „plötzlich das Gefühl einer ungeheuren Macht“ gegeben.

Ich muß 1999 leider uneuphorischer angehen. Denn während Berlin Regierungssitz wird, während wir 50 Jahre Bundesrepublik feiern und 10 Jahre Mauerfall, während wir an den Kriegsausbruch vor 60 Jahren denken und beinahe ein halbes Jahrhundert DDR... währenddessen steht für mich als Berlinerin ein Blick auf die Zukunft noch aus: Erst einmal wird die Stadt wählen. Einen Regierungswechsel? Das Gefühl einer ungeheuren Macht? Bis dahin fehlt mir jegliche Vorstellung davon, wie wir hier das neue Jahrtausend betreten. „Irgendwann müssen wir sagen: Da bin ich, und dort sollen die Möbel hin“, schreibt der Tagesspiegel. Oh, nein. Wir werden nur durchs Fenster sehen, wie der Regierende Bürgermeister sie stellt. „Nicht aggressiv, sondern in sich ruhend“ soll Berlin sein, sagt Klaus Böger. So wie er. „Aber zugleich nicht schläfrig“, fügt er hinzu. Und Walter Momper sagt: „Die Bundesregierung kann nicht einfach einen Zaun am Reichpietschufer aufstellen oder die Dorotheenstraße zumachen.“ Einer der beiden wird SPD-Kandidat.

Das ist zwar keine große Hoffnung, aber wenigstens eine berechtigte.