Die antisemitische Hetze hat System

Rassistische Parolen in Rußland sind keine Ausfälle einiger weniger, sondern dabei, fester Bestandteil der Staatsdoktrin zu werden. Die Regierung schweigt dazu, und die Zahl ausreisewilliger Juden wächst  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Wiktor Iljuchin, Vorsitzender des Sicherheitsausschusses der Duma, hegt keinen Zweifel: „Wenn in früheren Regierungen und im engeren Kreis Präsident Jelzins Repräsentanten der entscheidenden Volksgruppe und nicht ausschließlich Leute jüdischer Nationalität gewesen wären“, hätte der Genozid am russischen Volk nicht statthaben können. Der Brandstifter der Kommunistischen Partei (KPRF) nutzte die Publizität des Amtsenthebungsverfahrens gegen Jelzin für antisemitische Parolen.

Rassistische Ressentiments schwelen seit langem in der KPRF. Im Oktober hatte der Abgeordnete General Makaschow zur „Judenhatz“ aufgerufen. Jetzt ist klar, dahinter steckt System. Jurist Iljuchin ist kein Hinternbänkler und weiß, Worte zu gewichten.

Gefahr droht indes auch von anderer Seite: Die Gleichgültigkeit der Verantwortlichen in Regierung, Staatsapparat und Justizorganen ist kein geringerer Skandal. Zwar beauftragte Präsident Jelzin die Staatsanwaltschaft, Ermittlungen gegen Makaschow einzuleiten. Doch die Strafverfolgungsbehörden haben andere Prioritäten.

Und auch Oleg Mironow, Menschenrechtsbeauftragter, übt sich in der Rolle des behutsamen Aufklärers: „Im Kampf gegen den Antisemitismus darf man nicht auf extreme Mittel verfallen“, warnt er. Ein Expertengespräch mit den Delinquenten schwebt ihm vor. Ein Workshop Antisemitismus nach dem Motto „Kennenlernen und Vorurteile abbauen“. Der Zynismus ist grenzenlos.

Sensibilität im Umgang mit anderen Völkern besitzt Moskau nur in Spurenelementen. Alexander German, Filmregisseur russisch- jüdischer Herkunft, bezweifelt denn auch, daß die Vergehen geahndet und jemand hinter Schloß und Riegel gebracht werden könnte. „Was passiert, entspricht in seinem tiefsten Innern den Motiven staatlicher Politik“, meinte er. „Mein ganzes Leben habe ich unter latentem oder offenem Antisemitismus zugebracht.“

Kreml und Justizministerium forderten Kommunistenchef Gennadi Sjuganow auf, die Haltung der Partei zum Antisemitismus offenzulegen. Binnen kurzem lag ein Dokument vor, das den „Zionismus“ als „Blutsverwandten des Faschismus“ charkterisiert. Einziger Unterschied: „Der Hitlernazismus wollte hinter der Maske des deutschen Nationalismus die Welt offen unterjochen, während die Zionisten mit der Maske eines jüdischen Nationalismus auftreten, geheim agieren und sich fremder Hände bedienen.“ Kurzum, der Zionismus ist gefährlicher, da er sich tückisch verstellt.

Die Kampfschrift ist nicht erst in den letzten Wochen entstanden. Seit 1968 befaßte sich eine Abteilung der Akademie der Wissenschaften auf Geheiß des ZK der KPdSU mit der Erforschung des „Zionismus“. Der sollte sich bald als Drahtzieher aller Verbrechen gegen die Menschheit entpuppen. Dieser „Wissenschaftszweig“ sammelte Beweise einer vermeintlichen Kollaboration zwischen Nazis, Faschisten und Zionisten. Selbst der Holocaust erschien als ein Komplott, an dem die Zionisten beteiligt waren. Der westlichen „Ausschwitzlüge“ stehen diese Machwerke in nichts nach. Nur was hier in kleinen, marginalisierten Zirkeln kursierte, repräsentierte in der UdSSR die Richtlinie offizieller Politik. „Der Zionismus“, schrieb Historiker Jewsejew damals, „ist ein unsichtbares und mächtiges Imperium von Industriellen und Finanziers, ein Imperium, das man auf keiner Landkarte der Welt findet...“

Mit Hilfe der pseudowissenschaftlichen Doktrin „Antizionismus“ baute Moskau seine internationale Rolle aus und stilisierte sich zur naturgegebenen Schutzmacht aller Befreiungsbewegungen. Im Kampf gegen das „zionistische Israel“ verschmolzen Marx und Mohammed zu einer Synthese. An dieses Weltbild knüpfen die Kommunisten an, die nach einer griffigen Formel suchen, um die Massen zu mobilisieren. Antizionismus erweist sich ideologisch als unverfänglich, da nicht offen gegen einzelne jüdische Mitmenschen gerichtet. Dennoch setzt er auf Bilder aus der Vergangenheit, in der Antisemitismus zum Rüstzeug der russischen Staatsdoktrin gehörte. Der Antizionismus kommt aber ohne Juden aus. Sein Ziel heute: nach Westen eine Mauer aufschichten und sich der anderen Welt als Heilsbringer empfehlen. Im Irankonflikt beweist die Doktrin sogar eine gewisse Gegenwartstauglichkeit.

In der Bevölkerung ist der Antisemitismus seit Jahren konstant. Rund 16 Prozent scheinen anfällig zu sein. Stark zugenommen hat die Ablehnung im Staatsapparat. Das erklärt, warum staatlicherseits nichts unternommen wird, wenn der Gouverneur von Krasnodar Nasdratenko über seinen Haussender rassistische Parolen verbreitet oder Kalmückiens Präsident die faschistische Organisation Russische Nationale Einheit zum Kongreß nach Elista einlädt.

Die jetzige Elite verfährt wie russische Eliten vor ihr. In Krisenmomenten wird Antisemitismus als Regulativ geduldet. Zumindest würde das erklären, warum die systematischen Verbrechen an Juden der Stalinzeit im Vergleich zu anderen Völkern bis heute nicht einmal eingestanden wurden. „Die Zeit der Rehabilitierung ist gekommen“, schreibt Leonid Mininberg in seiner Arbeit über den immensen Beitrag der sowjetischen Juden in Wissenschaft und Rüstungsindustrie des Zweiten Weltkriegs. „Offensichtlich sind Staat und Gesellschaft noch nicht bereit, den Antisemitismus juristisch, moralisch und faktisch zu verurteilen.“ Ähnlich sieht es Alexander Jakowlew, Leiter der Kommission der Opfer politischer Repression. In der neuen Studie „Krestosew“ enthüllt er überdies ein schockierendes Detail. Am Vorabend des Krieges teilte Stalin dem deutschen Außenminister Ribbentrop mit, er verspreche Hitler, mit „der jüdischen Vorherrschaft“ Schluß zu machen ... Die Schmutztiraden zeigten Wirkung. Die Zahl der Ausreisewilligen schnellte hoch. In Tel Aviv kursieren Gerüchte, man stelle sich auf weit mehr Immigranten ein als erwartet.