Träumer und Zweifler

Wenn Rußlands Schlote aufhören zu dampfen: Das Kino des poetischen Realismus im Abaton  ■ Von Birgit Glombitza

So muß die Fußsohle der Welt aussehen. Nur ödes Land. Auf einer Anhöhe eine Ruine, auf einem Huckel ein Schaf. Ein Bild später: das dazugehörige Dorf, darin ein Kreis aus giggelnden Bewohnern und in der Mitte der Lehrer. Es ist der erste Schulmann, den die kirgisischen Bergbauern je gesehen haben. Und er ist das letzte, was sie gebrauchen können. Wenn der fremde Missionar von dem Aufbau einer neuen Gesellschaft predigt, ist das für die Gemeinde nur eine putzige Posse. Und weitaus weniger spektakulär als eine neue Kuh.

Denn das Leben hier draußen ist hart und ohne Kinderarbeit nicht zu schaffen. Da helfen keine Schülerchöre, die den sozialistischen Dreiklang von Weltrevolution, dialektischem Materialismus und internationaler Solidarität beherrschen. In der trockenen Steppenluft wächst so leicht nichts neues. Eine moderne Gesellschaft schon gar nicht. Doch „Der erste Lehrer“ läßt sich vom Fatalismus der Verbitterten nicht beugen. Auf alles hat er eine Antwort, nur bei der Frage, ob auch ein Lenin sterben kann, geht ihm die Pädagogik aus. Als später Lenins Tod das Anliegen des Schülers klärt, weiß der Lehrer selbst längst nicht mehr weiter. Die Ideologie muß ein bißchen Platz machen für eine andere Revolution. Er hat sich verliebt.

Der erste Lehrer, den Andreij Michalkow Kontschalowsky 1960 gedreht hat, kommt einer Rehabilitierung des emotionsbetont-expressiven Films der 10er Jahre und der 20er Jahre gleich. Nach dem „Kino des Zaren“ und dem „Kino der Revolution“ ist die Rußland-Reihe des Abaton diesen Monat beim „Kino des poetischen Realismus“ angelangt. Es gibt viele lange Einstellungen, in denen die Dorfbewohner Zeit haben, die Angst zu entblättern, die hinter ihren Wutrunzeln und Empörungsgrimassen kauert. Ruhige Fahrten binden Porträts zurück an die Einöde und erzählen vom sämigen Zeitfluß.

Das Leben im sowjetischen Film der poetischen Realisten sollte sich bei Regisseuren wie Kontschalowsky und Michail Kalatosow nicht länger als gesellschaftliches Räderwerk abspielen, in dem bestenfalls der Superproletarier eine Nahe vor energisch dampfenden Schloten verdient. Der poetische Realismus holte den Zweifler, den Eigenwilligen, den Träumer, den Unbelehrbaren zurück in den Focus. Das sowjetische Kino nach Lenins Tod, durch Stalin in die Krise getrieben und zum Parteidekor erklärt, sollte an die Avantgarde von Eisenstein bis Pudovkin anknüpfen und ihre aufklärerischen Visionen an individuellen Sehnsüchten reiben. In den 50ern landeten die Erneuerer der Filmkunst meist auf dem Index und meisterten den Weg in die Kinos erst nach dem Ableben Stalins.

Filme wie Wenn die Kraniche ziehen (1957), eine vom Krieg torpedierte Liebesgeschichte von Michail Kalatosow, wurden zu Klassikern dieser neuen Eigensinnigkeit. Auch Leuchte mein Stern, leuchte von Alexander Mitta bricht die Schablonen des sozialistischen Realismus an einer subjektiv erlebten Wirklichkeit. Er erzählt von einer Truppe Wanderschauspielern, die das Land für die Ideen der neuen Gesellschaft begeistern sollen. Doch der Bürgerkrieg wird zur Kulisse und die Bühnenakteure zu Zuschauern einer Wirklichkeit, die sich wie ein Theaterspektakel ausnimmt.

Andreij Tarkowskij, dessen Debüt Iwans Kindheit ebenfalls präsentiert wird, nimmt unter den poetischen Realisten die Stellung eines subjektivistischen Eigenbrötlers ein. Der Film von 1962 schildert das Leben eines 12jährigen Kundschafters, der die russische Armee über die Truppenbewegungen der Deutschen informiert. Immer wieder kämpft sich Iwan durch Schlamm, Frontlinien und Todesangst. Seine Vergangenheit flackert in surrealen Negativ-Mosaiken auf, die vom Tod seiner Eltern, seiner Flucht, seiner zersprengten Kindheit erzählen.

Iwans Kindheit, der den Goldenen Löwen in Venedig erhielt, machte Tarkowskij über Nacht berühmt. Bis heute genießen seine Werke wegen ihrer ungebremsten Privatmythologie kultische Verehrung. Mit den Ideen des poetischen Realismus hat sein Spätwerk nichts mehr gemein. In dem schriftlichen Credo Die versiegelte Zeit feiert Tarkowskij den Künstler als Vermittler ewiger Wahrheiten und gefällt sich als konservativer Provokateur, der mit symbolistischen Kreuzzügen noch einmal gegen die Experimente der Avantgarde anreitet. Die gesamte Kunst des 20. Jahrhunderts ist für Tarkowskij schließlich nicht mehr als Ausdruck einer heillos in die Irre gegangenen Zivilisation.

Gegen diese Schwertschmiede nimmt sich der Werdegang Kontschalowskys blasphe-misch, aber deutlich humorvoller aus. Denn der tobte sich in den 80ern bei Leichtkost wie Homer und Eddie mit James Belushi und Whoopi Goldberg und bei Haudrauf-Klimbim wie Tango und Cash mit Kurt Russell und Sylvester Stallone in Hollywood aus, bevor er sich 1991 mit dem spirituellen Der innere Kreis artig in die Reihe der etwas schwerblütig gewordenen, aber poetischen Altmeister stellte.

Wenn die Kraniche ziehen: Sa, 9., 13.30 Uhr; So, 10., 11 Uhr, Mo, 11., 17.45 Uhr; Di, 12. Januar, 17.45 Uhr. Iwans Kindheit: Sa, 16., 13.30 Uhr; So, 17., 11 Uhr; Mo, 18., 17.45 Uhr; Di, 19. Januar, 17.45 Uhr. Der erste Lehrer: Sa, 23., 13.30 Uhr; So, 24., 11 Uhr; Mo, 25., 18 Uhr; Di, 26. Januar, 18 Uhr. Leuchte, mein Stern, leuchte: Sa, 30., 13.15 Uhr; So, 31. Januar, 11 Uhr. Mo, 1., 18 Uhr; Di, 2. Februar, 18 Uhr, Abaton