Machtvakuum in Sierra Leone

■ Nach ihrem fast kampflosen Einmarsch in Sierra Leones Hauptstadt wollen die RUF-Rebellen Nigerias Eingreiftruppe aus dem Land werfen. Der bisherige Präsident Kabbah ist verschwunden

Freetown (AFP/AP/taz) – Die Rebellen in Sierra Leone bauen ihre Kontrolle über die Hauptstadt Freetown aus, in die sie am Mittwoch praktisch ohne Widerstand eingerückt waren. Nach Angaben von Bewohnern der Stadt forderten die Kämpfer der „Revolutionären Vereinigten Front“ (RUF) die Bevölkerung auf, aus den Fenstern weiße Fahnen als Zeichen der Unterstützung zu hängen.

Die Bewohner Freetowns wagen sich kaum noch aus ihren Häusern, weil in der Stadt noch vereinzelt geschossen wird und die jetzt geschlagene Regierung am Mittwoch gedroht hatte, jeden zu erschießen, der auf der Straße angetroffen wird. Bei ihrem Einmarsch hatten die Rebellen am Mittwoch die nigerianische Botschaft und andere wichtige Gebäude angezündet sowie viele Häftlinge aus den beiden großen Gefängnissen der Stadt befreit.

Viele Häuser sind jetzt ausgebrannt und zerstört. Geschäfte und Märkte blieben gestern geschlossen, der Rundfunk spielte geistliche Musik. Die Rebellen kontrollieren offenbar den Ostteil und das Zentrum der Hauptstadt, während die nigerianisch geführte Eingreiftruppe Ecomog und die bisherige Regierung sich auf den internationalen Flughafen und einige westliche Stadtteile zurückgezogen haben. Der amtierende RUF-Führer Sam Bockarie sagte, seine Streitmacht zähle 15.000 Mann. „Die Zeit des Dialogs ist vorbei“, sagte er. „Wir sind jetzt in der Lage, die Nigerianer aus dem Land zu werfen.“

Nachdem die Führung der Eingreiftruppe Ecomog zunächst den Einzug der Rebellen in Freetown bestritten hatte, rief der nigerianische Ecomog-General Abu Ahmadu gestern im Rundfunk die Rebellen in Freetown dazu auf, „sich den Sicherheitskräften zu stellen“. Er wiederholte die übliche Ecomog-Erklärung von Rebellenerfolgen, wonach die RUF- Kämpfer Zivilisten als Schutzschilde benutzt hätten und man sie daher hätte vorrücken lassen müssen. Ein RUF-Führer namens Oberst Sesay hatte zuvor gesagt, die Rebellen hätten bei ihrem Einmarsch in Freetown „keinen einzigen Ecomog-Soldaten angetroffen“. Lediglich die Kamajor-Miliz stellte sich der RUF entgegen.

Der Aufenthaltsort des bisherigen Präsidenten Ahmed Tejan Kabbah ist unbekannt, nachdem die Rebellen am Mittwoch nach eigenen Angaben seinen Amtssitz gestürmt hatten. Finanzminister James Jonah behauptete am Flughafen, Kabbah werde sich „bald“ an die Nation wenden und halte sich „aus Sicherheitsgründen“ an einem geheimen Ort auf. Offenbar ist der Ort sehr geheim: „Ich würde gerne wissen, wo er ist“, sagte im Westen von Freetown Hinga Norman, bisheriger Vizeverteidigungsminister und Führer der Kamajor-Miliz. „Als Präsident sollte er sich nicht von seinem Volk entfernen. Ich bin nicht Präsident, und ich laufe auch nicht weg.“

Ob die RUF, zu der sich zuletzt auch Teile der sierraleonischen Armee gesellt haben, nun formal die Macht ergreifen will, ist bisher unklar. Der inhaftierte und zum Tode verurteilte Führer der RUF, Foday Sankoh, befindet sich nicht unter den aus den Gefängnissen befreiten Häftlingen, weil er von den Behörden rechtzeitig woanders hin verlegt worden ist.

Der UN-Sicherheitsrat und der britische Außenminister Robin Cook verurteilten den Rebellenvormarsch in Freetown und riefen zur Unterstützung der Ecomog auf. Die internationalen Reaktionen übernehmen auch die Ecomog-Behauptung, wonach die Regierung von Präsident Charles Taylor im benachbarten Liberia die RUF unterstütze. Sierra Leones Finanzminister Jonah verglich Taylor gestern mit Hitler. Die UNO zog alle ihre Mitarbeiter aus Sierra Leone ab und beendete damit faktisch ihre im vergangenen Juni begonnene Beobachtermission mit 70 Mitarbeitern. D.J.