Das Lottowunder von Peschici

Für hundert Einwohner eines kleinen Städtchens im Süden Italiens geschah Ende Oktober ein höchst irdisches Mirakel: Sie knackten den Jackpot der Lotterie und wurden damit sozusagen von einer Sekunde zur anderen zu Millionären. Eine Geschichte aus der Provinz über Neid und Mißgunst und den tiefen Glauben daran, daß ein weiteres Wunder geschieht  ■ Von Philipp Maußhardt

Signore Lamargese steht hinter seinem Ladentresen und packt jeweils hundert Lotterielose mit einem roten Gummi zu einem Bündel zusammen, legt sie in die Schublade und schickt schon wieder mit der rechten Hand neue Lottoscheine durch die Stempelmaschine, während er mit der linken nach Wechselgeld sucht. Um die Schlange vor dem Tresen schneller zu bedienen, reichen zwei Hände nicht aus. „629“, zischelt er mißmutig unter seinem grauen Schnauzbart. Bitte? „Sie sind der 629. Journalist, der mich ausfragen will“, sagt er, und dabei könne doch jeder mit eigenen Augen sehen, daß er keine Zeit hat. Da hat er recht.

Seit am 31. Oktober 1998 ein Los aus Lamargeses Geschäft in dem süditalienischen Fischerort Peschici (sprich: Päskitschi) die Rekordsumme von umgerechnet 63 Millionen Mark gewann und damit hundert Einwohner über Nacht zu Liremillionären wurden, hat sich in dem beschaulichen Mittelmeerflecken mehr verändert als nur der Kontostand einiger Bewohner.

Der Kiosk von Signore Domenico Lamargese mit dem sinnigen Namen „Mille Cose“ (“Tausend Dinge“) ist zum Mittelpunkt des Viertausend-Einwohner-Städtchens geworden. Wenn er morgens öffnet, sind die ersten Lottospieler schon da; wenn er schließt, bleiben die letzten noch auf der Straße stehen und diskutieren Gewinnchancen. Dienstags und freitags regeln inzwischen zwei Polizisten den Verkehr vor dem Laden in der Via Umberto I.

An diesen beiden Tagen haben Lamargese und sein Schwager Fernando De Nittis auf ihrem alten Computer wieder eine „todsichere“ Zahlenkombination ausgeheckt für die Ziehung der Lottozahlen am darauffolgenden Tag. Die Menge vor dem Laden wartet schon ungeduldig darauf. Was den beiden einmal gelang, wird sich doch nochmals wiederholen lassen. Ein Wunder, glauben hier viele, kommt selten allein; die restlichen 3.900 Bewohner wollen schließlich auch noch gewinnen.

Von den „glücklichen Gewinnern“ zu sprechen verbietet sich allerdings nach einem Rundgang durch die engen Gassen von Peschici. Da steht zum Beispiel Domenico Tavaglione in seinem Metzgerladen, hackt Koteletts auseinander und schimpft: „So viel Geld ist es ja nun auch wieder nicht.“ Er hat für 25 Mark Einsatz etwa 630.000 Mark gewonnen und wollte eigentlich nun die Hochzeitsreise nachholen, die er vor 22 Jahren mangels Lire ausfallen lassen mußte. Doch Metzger Tavaglione muß sich die Idee nun doch nochmals gut überlegen. Denn seit er als Millionär gilt, bleibt sein Laden tagsüber plötzlich leer. Die Leute kaufen ihr Fleisch jetzt bei der Konkurrenz. Der arme Schlucker dort habe es nötiger, meinen sie.

In einem Gebäude der Via Tasso steht Antonio Ranieri am Preßlufthammer und meißelt Stück für Stück aus einem harten Kalkfelsen heraus. Neben ihm schwitzt sein Bruder Michelantonio. Sehen so Millionäre aus? „Ach, lassen Sie uns doch in Ruhe“, sagt Antonio. Sein Vater hat eine halbe Quote gewonnen (315.000 Mark). Mit der Hälfte des Geldes zahlte er seine Schulden, den Rest verteilte er an seine zwölf Kinder. „Können Sie rechnen?“ fragt mich Michelantonio. Dann schlägt er mit dem Pickel wieder auf den Felsen ein.

Wo steckt eigentlich Rocco da Renzo? Der Fischer hatte einer italienischen Zeitung noch am Abend des 31. Oktober angekündigt: Er werde sein altes Fischerboot verbrennen und das Meer nur noch aus dem Liegestuhl heraus betrachten. „Rocco ist in den Wald gegangen, Brennholz suchen“, sagt ein alter Fischer unten im Hafen. Roccos altes Holzboot liegt unversehrt am Strand. Wie alle Tage, bevor ihn das Losglück traf, fährt er damit morgens hinaus und hofft auf ein paar Kilo Brassen und Seebarsche. „Das mit dem Liegestuhl war doch nur ein Spaß“, sagt Rocco, als er mit seinem grünen Dreirad, beladen mit etwas Pinienholz, an seine Fischerhütte zurückkommt. „Für mich hat sich nichts geändert, außer daß die Fischaufkäufer mit sich nicht mehr handeln lassen.“ Noch ein Unzufriedener.

Endlich treffe ich einen, der macht ein glückliches Gesicht: Matteo D'Amato steht vor einer großen Grube, aus der eine Planierraupe gerade die Erde räumt. „Dort hinein kommt das ganze Geld“, sagt er. D'Amato ist dabei, sein Hotel zu vergrößern. Aus 24 Zimmern sollen fünfzig werden, dazu ein großes Restaurant mit Blick auf das Meer.

Doch mit dem Umbau hat der Hotelier schon begonnen, bevor er im Lotto gewann; vor der Villa der Familie stehen zwei Mercedes und ein Jeep. „Schön, so viel Geld zu gewinnen“, sagt er, „aber ich hätte es nicht gebraucht.“ Die D'Amatos sind schon Millionäre. Man hätte ihn geradezu genötigt, ein Los zu kaufen. „Ich wollte nur Zigaretten haben, und hatte nur einen 50.000-Lire-Schein. Da gab mir Lamargese ein Los als Wechselgeld, und ich hab's genommen.“

Vor noch dreißig Jahren galt in Peschici einer als reich, wenn er von einem Fischfang mit einer Ausbeute von 2.500 Kilo nach Hause kam. So etwas war selten und ist heute bei der Fischarmut in Küstennähe gar nicht mehr denkbar. Statt der Fische kamen irgendwann die „Tedeschi“, die Deutschen, denen Peschici heute seinen bescheidenen Wohlstand verdankt.

Nur in private Taschen floß das Geld der urlaubenden Gäste. Den öffentlichen Gebäuden sieht man jedenfalls nicht an, daß mehr als 200.000 Touristen im Jahr hier ihre Reisekasse leeren. Stadtmauer und Burganlagen sind in einem beklagenswerten Zustand, der Müll wird nach wie vor einfach auf einer Kippe verbrannt – nur inzwischen eben ein paar Meter weiter hinten in der Macchia.

Einen Monat nach dem großen Gewinn haben sich die Peschicesen einen neuen Bürgermeister gewählt. Der alte hatte sich zuletzt unbeliebt gemacht, als er die Lottospieler öffentlich verhöhnte und meinte, es sei sinnvoller, statt Lottoscheine auszufüllen, Blumensträuße für die Frauen zu kaufen. Damit hatte er nicht nur die Sieger (“vincitori“) verärgert, er hat auch alle anderen vergrault, die demnächst vincitori werden wollen. So einer war auf diesem Posten natürlich untragbar.

Der neue heißt Franco Tavaglione. Er versucht, nicht denselben Fehler zu machen, und spricht diplomatisch davon, daß die Gemeinde natürlich gerne auch ein wenig von dem Reichtum der Lottomillionäre profitieren möchte. „Aber selbstverständlich können wir niemand dazu zwingen.“ Immerhin hat der Lottoregen mit einem Schlag fast zehnmal soviel Geld nach Peschici gespült, wie die Gemeindeverwaltung ansonsten in einem ganzen Jahr zur Verfügung hat. Mit sieben Millionen Mark muß man auskommen. Nicht einmal eine Krankenstation kann man sich leisten.

Im Winter, wenn nicht bunte Fähnchen und Keramikteller an jeder Hausfassade die Trostlosigkeit verdecken, wirkt der Badeort deprimierend. Auf der kleinen Hauptstraße stehen Gruppen von Männern zusammen und versuchen mit Geschwätz die Zeit über den Tag zu retten. Wenn alle Sätze dreimal wiederholt sind, trinken die Arbeitslosen in einer der Bars einen Kaffee, um sich danach wieder vor der Türe zu treffen und auszutauschen, was sie beim Kaffeetrinken erlebt haben.

So geht das jeden Tag, und dabei gebe es viel zu tun, sagt jedenfalls Dorfpfarrer Don Giuseppe Clementi. „Die Oliven müssen geerntet, die Orangen gepflückt, und die Feriensiedlungen müßten für den Sommer hergerichtet werden. Doch seit diesem Gewinn“, klagt Don Giuseppe, „stehen sie alle nur noch herum und warten darauf, auch zu gewinnen. Selbst die Hausfrauen tragen ihr Geld zur Lotterie.“

Der Pfarrer sitzt leicht frierend an diesem Morgen in seinem kleinen Büro neben der Kirche und ordnet wieder einmal einen Stapel von Briefen, wie sie ihn fast täglich erreichen. „Hier, eine Frau aus Neapel. Sie braucht dringend fünfzigtausend Mark, um ihre Schulden zu zahlen.“ Don Giuseppe hält mir einen Brief entgegen. „Aber wir können doch nicht jetzt alle Probleme Italiens lösen! Außerdem haben wir hier ein ganz anderes Problem. Das ist längst kein Spiel mehr, was hier geschieht. Es ist eine Krankheit. Wir müssen dringend etwas dagegen unternehmen.“ Don Giuseppe ist sehr beunruhigt über den Zustand seiner Gemeinde.

Zusammen mit dem Exbürgermeister hat Don Giuseppe einen „Fonds für Solidarität“ gegründet, hoffend, daß die neuen Millionäre des Städtchens einen Teil ihres Gewinns für soziale Zwecke spenden. Bislang wurde noch keine einzige Lira einbezahlt. Das liegt allerdings daran, daß mehr als zwei Monate nach dem sensationellen Gewinn das Geld von der staatlichen Lotteriegesellschaft noch immer nicht ausbezahlt wurde. Im Januar soll es endlich kommen – kommen dann auch die Spenden? In seiner Weihnachtspredigt hat Don Giuseppe seine neureichen Schäfchen nochmals an ihre „christlichen Pflichten“ erinnert.

Inzwischen ist es Dienstag nachmittag geworden, und die Menschentraube vor Lamargeses Lottoladen wird immer größer. In wenigen Minuten, so heißt es, werden Domenico und Fernando die neuen auf ihrem Computer berechneten Glückszahlen der wartenden Tippgemeinschaft bekanntgeben, und dann rattert die Stempelmaschine wieder ununterbrochen bis in die Nacht.

Der tiefverwurzelte katholische Glaube, wonach Wunder sich an bestimmten Orten wiederholen, hat eine Lottoannahmestelle über Nacht zum Wallfahrtsort gemacht. „Sie kommen sogar von weither, um ihren Lottoschein bei Lamargese abzugeben“, sagt Michelantonio Piemenotese, „so abergläubisch sind sie hierzulande.“

Piemontese ist der einzige Intellektuelle von Peschici und besitzt genau gegenüber von Lamargeses Lottoannahmestelle eine kleine Buchhandlung. Wie er damit überlebt, bleibt sein Geheimnis. Das Geschäft ist immer leer. „Leider lesen die Leute hier keine Bücher“, sagt der Buchhändler. „Nur Lottoscheine.“

Domenico Lamargese, der diese Lektüre in der Via Umberto I. ausgibt, hat gute Chancen, in die Geschichtsbücher von Peschici einzugehen und noch viel berühmter zu werden als der bisher berühmteste Einwohner von Peschici – Giuseppe Libetta. Für seine abergläubischen Mitbewohner hat auch er ein Wunder vollbracht. Als Kapitän des ersten italienischen Dampfschiffes war er 1818 über das Mittelmeer getuckert und – miracolo, miracolo – nicht untergegangen.

Philipp Maußhardt, 40, Chefreporter der Münchner Abendzeitung, schreibt für die taz vor allem aus Süddeutschland über die Abseitigkeiten des Lebens