Erinnerungen an den Nachkrieg

Kindheitseindrücke, auch wenn sie noch so diffus sind, haften oft viel hartnäckiger als spätere Erfahrungen. Gelegentlich tauchen sie im Alltag des Erwachsenen als irritierende Spätfolgen einer längst vergangenen und begrabenen Zeit wieder auf und sorgen bei den Nachgeborenen bisweilen für Verwunderung. Vor den diesjährigen Feiern zum 50. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik im Jahre 1949 ein Essay über die Prägungen und Marotten jener Generation, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit aufwuch  ■ Von Michael
Rutschky

Der eigentümliche Gedächtniskult, den die Medien der Bundesrepublik mit Jahrestagen betreiben, hat uns für 1998 die dreißigste Wiederkehr von 1968 vor Augen geführt und wird dieses Jahr die fünfzigste Wiederkehr von 1949 feiern: Damals wurde die Bundesrepublik gegründet. Danach kamen die fünfziger und die sechziger Jahre (und so weiter), die alle einen festen Rahmen hatten – einen, der durch die Auflösung und den Beitritt der DDR noch fester wurde.

Was vor 1949 (und nach 1945) kam, das hat auch einen Namen: die Nachkriegszeit. Und es trifft sich, daß die Kindheit der Achtundsechziger oft in dieser Zeit spielt. Schaut man sich die Lebensgeschichte von Bundeskanzler Schröder an, stößt man am Anfang auf diese Nachkriegskindheit – während man bei seinen Vorgängern, ob Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt oder Kohl, auf Flakhelfer, Hitlerjungen, Wehrmachtsleutnants, politische Emigranten und NSDAP-Mitglieder zu sprechen kommen mußte, also auf direkte Erfahrungen mit dem Dritten Reich, dem Weltkrieg, den Verbrechen.

Hätte ich Kinder, ich würde sie vermutlich nerven mit Erinnerungen an diese Zeit; erst Großeltern dürfen von einer „alten Zeit“ so erzählen, daß die Enkel es hören mögen. Vor allem würde es mir mißlingen, von der Nachkriegskindheit so zu erzählen, daß nicht immer dieselbe Moral herausspränge. Ganz gegen meinen Willen und meine Absicht würde ich immer wieder mahnen und warnen, die Freuden der Gegenwart seien flüchtig und vergänglich; dahinter drohe eine wirklichere und dauerhaftere Wirklichkeit: Mangel und Entbehrung.

Klar, die Wirklichkeit, der das Kind begegnet, erscheint als die wirklichste, denn sie ist unüberschreitbar. Das Kind kann weder Bücher lesen noch in die weite Welt reisen, wo es anders ausschaut als hier. Die Wirklichkeit der Kindheit bleibt auf rätselhafte Weise stets irgendwie in Geltung. Als die Grünen ihre ökologische Kritik am Kapitalismus vorzutragen begannen, meinte ich im Hintergrund stets die Nachkriegszeit zu erkennen.

Auch andere Warnungen vor dem ökonomisch-sozialen Zusammenbruch scheinen mir von jener Kindheitswirklichkeit geleitet, wobei die Welt des Mangels und der Entbehrung mal positiv als authentisch codiert ist (während der Glitzerschein der Gegenwart trügt), mal negativ, als Drohbild einer Zukunft, die wir unbedingt vermeiden müssen. Schon damals, in der Nachkriegszeit, waren die fossilen Brennstoffe äußerst rar.

Wir allerdings konnten ungehemmt mit Braunkohle heizen; die Beziehungen meines Vaters zu einem Bergbaubetrieb sorgten immer für Nachschub. Unvergeßlich, wie eines Morgens im Schnee ein Schatz dieser samtigen Brocken lag.

Bloß waren die Öfen des großen Hauses, das weit entfernt von der Stadt am Waldrand lag, braunkohleninkompatibel und auf ganz anderes Heizmaterial eingerichtet. Beim Abbrennen bildete die Braunkohle bizarre Schlacken, die sich in den schmalen Öfen verkeilten, wenn Mutter sie entsorgen wollte. Ich sehe sie fluchend die Schlacken mit einem Hammer zerkleinern, was viel Schmutz machte und sehr mühsam war, weil man an das Zeug in dem schmalen Ofen von oben und unten kaum rankam.

Sofort kann man aber beobachten, wie das Heimweh funktioniert, die Mechanismen der unwillkürlichen Erinnerung, die Marcel Proust so sorgfältig ausgeforscht hat: Nie konnte ich verstehen, warum vielen, auch vielen ihrer Bewohner, die Armut und Mangelhaftigkeit der DDR besonders drastisch von der Braunkohlenverheizung demonstriert wurde. Ich brauchte das nur zu riechen und wurde sofort von dieser retrograden Sehnsucht befallen, die man Heimweh nennt und die uns so unwiderstehlich an einen Ort und in eine Zeit zieht, wo's gar nicht schön war, wenn man sich mal genauer erinnert.

Erst nach zehn Jahren konnten wir dieses große Haus am Waldrand verlassen, die Bundesrepublik war sechs, ich war zwölf Jahre alt. Was unsere neue Wohnung noch nicht hatte und worauf ich auch in meiner ersten Studentenbude noch verzichten mußte, war warmes Wasser, das aus der Leitung fließt. Auch das Waschwasser machte ich mir auf einem Spirituskocher heiß; praktischerweise brachte man eine kleine Portion zum Kochen und verdünnte sie gewissermaßen mit kaltem Wasser bis zu einer angenehmen Temperatur.

Noch heute, behauptet K., die es mit ihren Eltern und Geschwistern in ein anderes Haus am Waldrand verschlagen hatte – sie waren „Evakuierte“ (ein schon vor zwanzig Jahren untergegangenes Wort) –, noch heute, behauptet K., könne sie zuweilen das warme Wasser, wie's direkt aus der Leitung fließt, freudig bestaunen.

Beim Heimwehgefühl, das der Braunkohlengeruch auslöst, erweist sich wieder der Geruchssinn als das Archiv der unwillkürlichen Erinnerung. Ein anderes Archiv, an das aber schwerer ranzukommen ist, sind die Gewohnheiten. Sie bilden – nach den Lehren französischer Soziologen, die sich um das Problem besonders gekümmert haben – das eigentliche soziale Gedächtnis (im Unterschied zum persönlichen).

Viele meiner Gewohnheiten sind als Sedimente der Nachkriegskindheit zu entziffern. So werde ich, wenn mir ein Schnürsenkel reißt, ihn stets auf eine bestimmte flache Manier, die ich als Kind zu lernen hatte, knoten, und ich werde diesen Knoten so auf der Innenseite des Schuhs, zwischen Lasche und Oberleder zu verbergen wissen, daß er unsichtbar bleibt, wenn die Schuhe geschnürt sind.

In all den Jahren, in denen ich regelmäßig teure Schuhe trage, ist es mir stets mißlungen, Ersatzschuhbänder parat zu haben. Immer laufe ich eine ganze Weile mit den provisorisch geknoteten herum – bis ich mir ein richtiges Kommando gebe und neue kaufe, die ich dann mit einer Befriedigung einziehe, als hätte ich rare Beute gemacht. Nie bin ich auf den Gedanken gekommen, mir mehr als nur ein Paar davon zu kaufen.

Man mußte an buchstäblich allen Gebrauchsgegenständen sparen. Entweder sie waren nicht nachzukaufen, oder man hatte kein Geld. Das Sparen als Gewohnheit prägt auch mein Verhältnis zur Zahnbürste. In der Regel ist es K., die eine neue bereitlegt, weil ich es einfach übersehe, wie krumm und schief die Borsten der letzten schon wieder sind.

Ähnliches gilt für Rasierklingen, wobei wir en passant Aufschluß darüber erhalten, wie Gewohnheiten nicht persönlich aufgebaut, sondern durch Identifizierung übernommen werden.

Selbstverständlich brauchte sich das Nachkriegskind noch nicht zu rasieren, aber es bekam mit, daß der Vater mit seinen Klingen äußerst sparsam verfuhr (es gab da so eine Technik, sie auf dem Handballen immer wieder nachzuschärfen), und als der Jüngling soweit war, hielt er sich an die Regel. Sie gilt bis heute.

Zu diesen Sedimenten der Nachkriegskindheit gehört auch die Sache mit der Seife. Bekanntlich finden Paare, die sich frisch zusammentun, eine Unmenge Streitgründe in Nebensachen. Regelmäßig geriet K. in Zorn, wenn sie mir beim Händewaschen zuschaute.

Ich drehte den Hahn auf und seifte mir die Finger unter laufendem Wasser ein. – Nein, so macht man das auf gar keinen Fall! Du mußt die Hände unter das Wasser halten und mit den nassen Händen das Seifenstück nehmen und deine Finger daran reiben – aber abseits vom Wasserstrahl! Sonst wird doch andauernd Seife weggespült, die reine Verschwendung! Und in der Tat: Die Seifenstücke von K. halten bis heute viel länger als die meinen. Sie hatte in ihrer Nachkriegskindheit noch drei Geschwister, während ich allein war. In ihrem Haus am Waldrand herrschte offenbar ein noch strengeres Regiment des Sparens.

Gemeinsam ist den beschriebenen Sedimenten der Nachkriegskindheit ihre Nebensächlichkeit. Nur im Abseits konnten sie sich erhalten. Nie käme ich auf die Idee, einen abgetragenen Anzug von dem türkischen Änderungsschneider „wenden“ zu lassen. Ja, das war früher gang und gäbe, die Innenseite eines Kleidungsstücks, die ja unter dem Futter gelegen hatte und entsprechend unverbraucht war, nach außen zu kehren: Dann war das gute Stück „wie neu“ und die Prozedur billiger als ein neuer Anzug.

Heute werden abgetragene Anzüge in die Kleidersammlung gegeben, oft genug auch Sachen, die noch gar nicht abgetragen sind, an denen man aber den Geschmack verloren hat; ohne Reue.

Zentral für die Nachkriegskindheit waren die Probleme der Ernährung, das Essen. Schon in den Fünfzigern gab's eine sogenannte Freßwelle, der, ich weiß nicht wann, die erste „Edelfreßwelle“ folgte; heute zählt ein fein zelebriertes Essen im Restaurant zu den Massenvergnügungen. Wenn sich irgendwo Snobs in Spezialitätenrestaurants versammelten, wo arme Küche in der Gestalt von Graupensuppe, Pellkartoffeln mit Speckstippe, Haferbrei gereicht würde, ich hätte es mir gemerkt.

Aber auch hier finden sich Überbleibsel der Nachkriegskindheit, wenn man auf die Nebensachen blickt. So erfüllt mich persönlich auch das schönste Obst mit einer gewissen Indifferenz. Obst war für das Nachkriegskind die einzig erreichbare Süßigkeit; man jieperte dem Sommer und Herbst mit den Kirschen, Äpfeln, Birnen, Pflaumen entgegen und schlug sich schon mit den unreifen Früchten den Bauch voll (so daß schwere Kotzübungen folgten).

Dagegen erfüllt es mich noch heute mit tiefem Behagen, wenn ich eine Tafel Milchschokolade in einem Zug, mit Stumpf und Stiel vertilge: Damals gab's, wenn überhaupt, hin und wieder nur ein Stückchen; schon ein ganzer Riegel bedeutete den schieren Luxus. Auch kaute man die Schokolade nicht, sondern lutschte sie, damit das Vergnügen länger dauere.

Und gewiß zählt zu den Sedimenten der Nachkriegskindheit, daß man keine Speisen wegwerfen soll. Auch wenn es nur ein Büschel Sauerkraut oder ein paar Bratkartoffeln sind, die einfach zuviel waren, sie vom Teller in den Mülleimer zu streifen erweckt Reue.

Heilig gar ist uns Nachkriegskindern das Brot. Neulich erwies sich eine ganze Packung als angeschimmelt, aber K. bestand darauf, die heilen Partien abzuschneiden und zu verzehren. (Igitt! Es sollte sich inzwischen auch bei Nachkriegskindern herumgesprochen haben, daß es bei schimmligem Brot keine „heilen Partien gibt; die S.'in)

Mit diesem Lebensmittel, dem Brot, betreten wir das Reich der Symbole und der Magie. Wer es wegwirft, fordert die Nemesis heraus und wird gründlicher als jede ökologische Krise die „schlechte Zeit“, die Nachkriegszeit mit ihren Mängeln und Entbehrungen wieder herbeirufen.

Kindheitsbild aus dem Köln der späten vierziger Jahre: Hoffnung auf bessere Verhältnisse Foto: Walter Dick/BPK

Michael Rutschky, 55, lebt als Schriftsteller und Essayist in Berlin. Als Buch erschien von ihm zuletzt: „Lebensromane“, Steidl, Göttingen 1998, 304 Seiten, 38 Mark