Blauhäutiger Jubiläumszwerg

Die erste Schlumpfwerdung liegt vierzig Jahre zurück. Damals begann der weltweite Siegeszug der knubbelnasigen Comicfigur aus Belgien. Später fertigten clevere Schwaben den blauen Kerl aus Weichgummi und schufen einen Verkaufsschlager. Längst bevölkert der Gnom jede Sparte des Freizeitmarktes. Hierzulande konnten nicht einmal die quäkenden Ohrwürmer von Vader Abraham den Spaß an den Kobolden austreiben  ■ Von Vanessa Voss

Zwar ist Helmut Braig ein gebürtiger Schwabe, aber ein gutbürgerliches Häusle zu bauen, käme ihm nie in den Sinn. Braigs Paradies liegt unter der Erde. Auf einem Waldstück an der Landstraße von Schwäbisch Gmünd nach Welzheim gräbt sich ein schmaler Weg drei Meter tief in den Boden und öffnet sich dann zu einer geräumigen Höhle. Umschlossen von modrig riechenden Felswänden gleicht Braigs Unterschlupf einem bizarr bemalten Märchenreich: Surreale Wesen klettern die Wände empor, und den Boden bedecken erotische Motive. Hier verbringt Helmut Braig, der Wunderweltenarchitekt, bekleidet mit Lendenschurz und Lederhut, so manche laue Sommernacht: „In meiner Höhle sind mir schon die besten Inspirationen gekommen, wie ich die deutsche Volksseele verführen kann.“

Am Anfang war Plastik. Nichts als Plastik. Aber aus diesem schnöden Stoff entwirft Braig phantastische Welten im Kleinformat. Er macht sichtbar, wovon andere träumen. Seine Auftraggeber sind große Spielzeugfirmen dieser Welt, die solche Träume gegen Geld tauschen. Für ihre Tiere, Puppen und Kobolde baut der gelernte Entwurfszeichner Lebensräume zum Wohlfühlen. Er läßt Steifftiere Abenteuer auf der Arche Noah erleben, schenkt Barbie und Big Jim ein schickes Filmstudio und Karl May eine Westernshow.

Die meiste Zeit seines Lebens widmete der 75jährige aber der Welt der Schlümpfe. Für sie materialisierte er das, was ihm als heimelige Behausung, abenteuerlicher Spielplatz oder grandioses Gefährt schlumpfkompatibel erschien. Wenn er sich heute an seine allerersten Konstruktionen, die Spiellandschaft „Baumstumpf“ und die königliche Residenz „Schlumpfschloß“ erinnert, sagt er: „Ich hatte viele Träume, aber die mußten sichtbar gemacht werden und zu den Schlümpfen passen. Dies ist mir nur gelungen, wenn ich mich selbst zum Schlumpf gemacht habe.“

Der erste Schlumpf entsprang der Phantasie des Cartoonisten „Peyo“, mit richtigem Namen Pierre Culliford. Als der Belgier im Sommer 1957 während eines Essens zu seinem Freund Franquin sagte: „Reich mir mal den Schlumpf!“, wußte er selbst nicht, ob er Salz oder Pfeffer meinte. Doch Franquin schaltete sofort: „Hier hast du es, aber wenn du zu Ende geschlumpft hast, schlumpf es zu mir zurück.“ Das Wort „Schlumpf“ war geboren. Die Buchstabenreihe löste bei Peyo eine Kette von Assoziationen aus. Und an deren Ende stand ein Zwerg, dem er mit seinem Stift Gestalt und Leben verlieh. Die Wichte kamen blauhäutig zur Welt, „weil ich sie nicht gelb machen konnte, dann hätten sie krank ausgesehen, auch nicht grün, dann hätten sie wie Marsmännchen ausgesehen, aber auch nicht rot oder braun oder schwarz“, erzählte Peyo einmal. „Und als ich alle Farben des Regenbogens durch hatte, blieb nur noch Blau.“

Im „Spirou“, dem meistgelesenen Comicblatt des franko-belgischen Raumes, gaben die blauhäutigen Kobolde am 23. Oktober 1958 ihr Debüt. Nachdem sie in sechzehn Comics die Sympathie der Leser erobert hatten, nahm sich 1965 die baden- württembergische Spielzeugfirma Schleich ihrer an. Der Spezialist für Comicfiguren steckte sie in Körper aus Weichgummi.

In den Fabrikhallen in Schwäbisch Gmünd arbeiten rund hundert Mitarbeiter. Ihr Zutun bei der Schlumpfwerdung beschränkt sich auf wenige Handgriffe, denn die Spritzgießmaschinen produzieren die Rohlinge vollautomatisch. Wenn ein Wicht der Maschine entspringt, ist er noch weißhäutig. Seine Blöße wird erst im Ausland bedeckt. „Alle Schlümpfe dieser Welt sind einzeln von Hand bemalt, und so ist jeder ein Unikat“, sagt Schleich- Geschäftsführer Franz-Ulrich Köster.

„Normalschlumpf“, „Goldschlumpf“ und „Sträfling“ waren die ersten 4,5 Zentimeter großen Geschöpfe, die von Schwäbisch Gmünd aus 56 Länder eroberten. Während sie etwa in ihrem Vaterland Belgien auf „Schtroumpf“ hören, heißen sie im englischen Sprachraum „Smurf“, in Brasilien „Strunf“, in China „Lan-Shin- Ling“, in Italien „Puffo“ und in Portugal „Estrumpfe“. „Schmetterlingsfänger“, „Quacksalber“ und „Handyschlumpf“ – die Schlumpffamilie wuchs in den vergangenen vierzig Jahren auf über 450 Mitglieder an. Bis heute weiß allerdings niemand, wie sich die geschlechtslosen Gnome fortpflanzen. Das Thema Sex paßt eben nicht in die Schlumpfwelt.

Der Siegeszug der Schlümpfe ist ein Musterbeispiel für cleveres Merchandising. Ob Figuren oder Filme, Serien oder Spaßpark – Schlümpfe machen sich in jeder Sparte des Mußestundenmarktes breit. Schlumpfversionen eingängiger Schlager à la Vader Abraham dröhnen ebenso aus den Lautsprechern wie Schlumpf-Techno-Sound, diverse Schlumpfstreifen flimmern über die Bildschirme, und als vorläufiger Höhepunkt der Huldigung wurde nahe Metz ein Schlumpfvergnügungspark eröffnet.

Trotz einer Schwemme strammer Comik-Konkurrenten kann der Schlumpf sich weiterhin behaupten: Eine konstante Produktion von jährlich rund 18 Millionen Figuren zeigt, daß der kleine Kobold gegen die Attacken von Power Rangers, Ninja Turtels & Co. immun ist. Wie die rundlichen Figuren mit Knollennase, Stummelschwanz und Zipfelmütze es schaffen, sich die Gunst der Menschen zu erhalten – dieses Geheimnis nahm ihr Erfinder mit ins Grab; er starb Weihnachten 1992. Spekulationen sind trotzdem erlaubt. Der Münchner Schlumpfspezialist Frank Oswald, Herausgeber eines zweihundert Seiten starken Schlumpfkataloges für Sammler, meint: „Die Schlümpfe haben Trends überdauert. Ich glaube, daß sie irgendein Urbedürfnis befriedigen.“

Der schwäbische Künstler Braig jedenfalls ist der Faszination „Schlumpf“ erlegen. Vor vierzehn Jahren legte er ihnen seine schillerndste Vision zu Füßen. „Meine ganze Kreativität habe ich aufgebracht, um für sie eine überwältigende Phantasiewelt aus Plastik zu bauen.“ Zwei Monaten brauchte er, um die selbstgesteckte Mammutaufgabe zu bewältigen. Seine Landschaft „Reich der Schlümpfe“ gilt unter Branchenkennern als „Jahrtausendstück“. Auf der Leistungsschau in Tokio 1984, wo namhafte deutsche Firmen aller Branchen ihr Können präsentierten, wurde der Architekt der Schlümpfe für sein Werk mit Lorbeeren überschüttet, renommierte Spielzeughäuser rollten ihm den roten Teppich aus, und das Publikum rannte die Absperrungen ein, um einen Blick auf das Schlumpfreich zu ergattern. Der Triumph in Tokio traf Braig, der all die Jahre für die Schlumpfschmiede Schleich geschafft hat, völlig unvorbereitet: „Mir war zwar bewußt, daß ich etwas Tolles kreiert hatte. Aber das Jahrtausendschaustück? Na ja – vielleicht weil ich deutsche Märchen nach Japan geliefert habe.“

Elf Exemplare von Braigs „deutschem Märchen“ gibt es heute auf der Welt. Eins davon steht gleich um die Ecke, im Keller eines seiner Freunde. Zehn große Schritte braucht man, um die vulkanartige, volltechnisierte Plastikwelt zu umrunden, auf der sich Hunderte von Schlümpfen amüsieren – sie fahren Karussell, schweben mit einer Sesselbahn die Berge hinauf oder verbringen müßige Stunden am Ufer eines Sees.

In der Menschenwelt machen sich die Wichte nicht nur in Kinderzimmern breit. Bei der 39jährigen Miriam Reusch in Schwäbisch Gmünd hängt nahe dem Ehebett ein riesiger Setzkasten. In dem ist jeder Schlumpf – von der Nummer 2.0001 „Papaschlumpf“ bis zur Nummer 2.0454 „Profifußballer“ – postiert. Und manche Figur steht gleich mehrmals da, in länderspezifischen Varianten. Die quirlige Frau ist süchtig nach den kleinen Kerlen. Sie kann stundenlang in ihrem Schlumpfwissen schwelgen, berichten, welcher ihrer vierzehn Sanitäterschlümpfe seit wann auf dem Markt ist, oder erklären, daß der Weihnachtsschlumpf nur in limitierter Auflage in den USA verkauft wurde. Ein Blick auf die Schlumpfunterseite verrät, ob der Zwerg in China, Portugal, Tunesien oder Schwäbisch Gmünd zur Welt kam.

Miriam Reusch weiß so viel über die blauhäutigen Zwerge, daß man vermuten könnte, sie sei irgendwann schon mal in Schlumpfhausen gewesen. Aber davon will sie nichts wissen. Vielleicht kann sie sich aber auch nur nicht mehr an die tiefschwarze Nacht erinnern, damals, als ein blauhäutiger Kobold sie aus ihrem Ehebett gelockt und ins unerreichbare Land geführt hat...

Vanessa Voss, 24, studiert in Köln Politik und Volkswirtschaft