Die Taschen des Leichenhemdes

Cordula Caspary richtet die Toten her, daß sie schön aussehen, und redet darüber. Zum Beispiel als Referentin für den professionellen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer  ■ Ein Portrait von Burkhard Straßmann

Einmal war da eine Frau. Die war noch warm. Und doch war deutlich zu spüren: „Sie war schon weg.“ Ein anderes Mal war da ein Mann. Der war schon kalt. „Aber er war noch immer auf unerträgliche Weise präsent. Der wollte nicht gehen.“ Es könnte die Seele gewesen sein, kann man es wissen? Cordula Caspary weiß es nicht. „Doch da ist manchmal noch etwas im Raum.“ Sie stellt sich vor: Die Seele oszilliert noch eine Zeit lang zwischen dem Toten und dem Irgendwo hin und her. In diesen Augenblicken lächeln einige Tote verschmitzt. Andere werden den letzten Krampf nicht los. Aber immer wirken sie authentisch. „Dann sind sie ein einziges Mal ganz ohne Show, ganz nah. Nur Mensch.“ Das, sagt sie, könnte einer der Gründe sein, warum sie ihre Arbeit so gern macht.

Cordula Caspary arbeitet mit Toten. Theoretisch und praktisch. Mit ihren kräftigen, beweglichen Händen richtet sie die Toten für ihren letzten Auftritt her: die Aufbahrung. Zieht sie an. Kämmt sie. Massiert ihre Kinnmuskeln, damit sich das Gesicht entspannt. Schließt ihnen den Mund, damit sie schön sind für ihre Hinterbliebenen. Eine Zeit lang hat sie für Bremer und Hamburger Bestattungsunternehmen gearbeitet, als „Fahrer“, wie sich die gewerblichen Bestatter nennen, die den Leichnam aus der Wohnung oder dem Krankenhaus abholen und Sarg und Leiche herrichten. Ein reiner Männerberuf, eigentlich. Heute geht sie mit dem Tod öfter theoretisch um, als Dozentin im Hamburger „Institut für Trauerbegleitung und Bestattungskultur“. In Bremen bietet sie bei verschiedenen Bildungsträgern Kurse an wie den im April in der Angestelltenkammer: „Vom Umgang mit dem Tod“. Es ist in jedem Fall nützlich, mit Frau Caspary über den Tod zu sprechen. Bevor es zu spät ist.

Denn Cordula Caspary hat eine Botschaft. Die könnte man so zusammenfassen: Leute, es gibt kaum eine freizügigere Bestattungsgesetzgebung als die deutsche. Nutzt die Möglichkeiten, wenn Ihr einen Freund oder Angehörigen zu bestatten habt! Entdeckt vergessene Rituale, füllt sie neu mit Leben! Laßt Euch die Form Eurer Trauer nicht von Bestattungsinstituten diktieren! Das sind nur Dienstleister, die machen alles mit, wenn Ihr nur bestimmt auftretet. Denn der Markt ist eng. Eines ihrer liebsten und spannendsten Bücher ist eine dicke Schwarte: das Deutsche Bestattungsrecht.

Wenn einer zu spät mit Frau Caspary spricht, sagt er vielleicht: „Wenn ich das früher gewußt hätte! Was nicht alles geht!“ Es geht, den an AIDS gestorbenen Freund im Rahmen einer Schwulenfete mit Luftballons zu beerdigen. Es geht, den Sarg anzumalen. Man kann seinen Toten selbst und nach Wunsch kleiden. Wenn er immer kalte Füße hatte, kann man ihm Wollsocken anziehen. Notfalls kann sein Leichenhemd auch Taschen haben: Ins Grab kann man mitgeben, was man möchte. Man kann den Leichnam bis zu 96 Stunden bei sich zu Hause behalten und den, der im Krankenhaus gestorben ist, zur Aufbahrung nach Hause überführen lassen. Der Gartenfreund darf auf der Parzelle, der Wirt in der Kneipe aufgebahrt werden.

Nur die letzte Verpackung und der Ort der Bestattung unterliegen Einschränkungen. Sarg und Friedhof bzw. Seebestattung sind Gesetz. Doch auch hier gibt es Ausnahmen und Wege. Auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg können sich zum Beispiel Muslime aus religiösen Gründen statt in einem Sarg in Tücher gewickelt beerdigen lassen. (In Bremen ist es immerhin möglich, den Sargdeckel den muslimischen Angehörigen zuliebe ein Stückchen offenstehen zu lassen.)

Nun ist Cordula Caspary keineswegs die Verfechterin einer alternativen Bestattung auf Teufel komm raus. Eigentlich empfiehlt sie, wenn man sie fragt, am liebsten gute alte Bräuche. Spiegel verhängen. Kerze anzünden. Trauerbinde, Trauerflor. Erbauliche Bildchen mit dem Foto des Verstorbenen, den Trauernden nach der Bestattung zu reichen. Sie ist nämlich studierte Kulturwissenschaftlerin und eigentlich sogar Bestattungskulturwissenschaftlerin, hat in Bremen und Tübingen gelernt. Nach dem Examen tat sie, was alle Kulturwissenschaftler tun müssen: Sie erfand sich einen Arbeitsplatz.

Über Tod und Sterben hatte sie aus biographischen Gründen schon schmerzlich oft nachdenken müssen; ihre Examensarbeit befaßte sich mit Friedhöfen. Also blätterte sie eines Tages in den Gelben Seiten und rief ein Bremer Bestattungsunternehmen wegen eines Praktikums an. Den wichtigsten Test bestand sie am ersten Tag in der Leichenhalle: „Ich hatte keinen Würgereiz. Und danach keine Alpträume.“ Mit toten Menschen könne man umgehen oder nicht, das zeige sich am ersten Tag. „Man lernt das nicht.“ Sie überlebte auch die schwereren Prüfungen: ein totes Kind (sie ist Mutter von zwei Kindern). Eine tote gleichaltrige Frau. Einen Selbstmörder. Es war eigentlich auch nur Arbeit mit Menschen. Toten Menschen eben.

Probleme gab es seinerzeit mit den anderen „Fahrern“ im Bestattungsinstitut. Gepanzerten Männern mit groben Umgangsformen. Leuten, die die Toten in die Kiste wuppten wie ein Stück Holz, die ihnen den Mund mit Hautkleber zuklebten, daß der Gesichtsausdruck manchmal erschreckend grimmig wurde. Statt mühsam die Toten anzuziehen, schnitt man ihre Kleidung hinten auf, und wenn's ein Alter war aus dem Pflegeheim, „vergaß“ man auch schon mal, die Pampers zu entfernen. Das waren schlimme Erlebnisse für Cordula Caspary, die einen freundlichen und respektvollen Umgang mit den toten Menschen erwartete. Da war mal eine Oma, die hatte sich zu Lebzeiten ihr letztes Hemd ausgesucht. Dieses Hemd aus Bequemlichkeit zerschneiden? Dann doch lieber ein bißchen Plackerei mit dem widerborstigen Körper.

Schließlich war es „Mobbing“, das die Frau, der auch mal in der Leichenhalle die Tränen kamen, veranlaßte, das Institut zu verlassen. Blöde Scherze, gemeine Streiche, Lügen. „Die konnten dort keine Frau ertragen, schon gar keine studierte.“ Bei einem Hamburger Bestattungsunternehmen lernte sie auch andere Umgangsformen kennen. Am dortigen „Institut für Trauerbegleitung und Bestattungskultur“ fand sie schließlich einen auch zu ihrer Ausbildung passenden Job: die Stelle einer Referentin für die berufliche Weiterbildung all solcher, die professionellen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer haben: Polizisten, Pflegepersonal, Hospizmitarbeiter.

Einmal, vor vielen Jahren, starb der Cordula Caspary ihr Freund. Da wickelte sie ihn in Tücher, legte ihn ins Grab und schaufelte es zu. „Spontan“, sagt sie. Das war nicht ganz legal, aber auf dem Dorf. Kein künstliches Ritual, eher eine Trauerarbeit, die von innen kam. Wenige Menschen haben, wenn ihnen einer stirbt, die Ruhe und den Mut, sich mit dem Toten (und dem Tod, auch dem eignen) zu konfrontieren. Eigene Wege zu gehen. Oder nach einem guten Bestattungsinstitut zu suchen. Normal sei, sagt Frau Caspary, daß man im Branchenbuch nachschlägt und irgendein Unternehmen anruft. Oft noch vor dem Arzt. Auf daß das Schreckliche schnell entfernt werde.

Mittlerweile wird ihre Nummer herumgereicht (0421/383055). Besonders unter Leuten, die wissen, daß ein Angehöriger oder Freund sterben wird. Cordula Caspary berät, so gut sie kann (vielleicht auf Dauer nicht mehr gratis). Der Bedarf scheint groß zu sein. Einmal, so malt sie sich aus, würde sie gern für Bremen sein, was Kolleginnen für Hannover und Berlin schon sind: eine „Totenfrau“.

Das ist eine uralte Institution, die es heute nur noch auf manchen Dörfern gibt und die an eine Zeit erinnert, als der Umgang mit dem Leichnam noch nicht Männersache war. Eine Frau, oft die Hebamme, die man rief, wenn der letzte Atemzug getan war.

Ein Traum, gewiß. Wir stellen uns eine Totenfrau vielleicht auch etwas älter vor. Mit einigen Runzeln im Gesicht. Was sind 32 Jahre?! Was sind vier schwere Prüfungen?!