■ Bewegungsmelder
: Holzklasse fürs ganze Volk

Wer findet diese Sitze eigentlich schön? Diese blau-rosa-schwarz- wildgemusterten Plastikpolster in der U-Bahn, die entweder kalt unterm Hintern sind oder lauwarm, wenn der Vorsitzer gerade erst aufgestanden ist. Tückisch sind sie auch, die bunten U-Bahn-Sitze. Den kleinen, dezent in die Ecke plazierten Kaugummi hätte man leicht übersehen – und fast wäre das Malheur passiert: Aufstehen und ein weißer, weicher Faden hängt zwischen Sitz und Allerwertestem. Alle Umsitzenden gucken angeekelt und der Geschlagene fängt peinliche Verrenkungen an, um das Zeug wieder loszuwerden.

Richtig reinfläzen kann man sich in die Sitze auch nicht. Sie gaukeln Polsterung nur vor. Stets schaukelt man kerzengerade durch den Berliner Untergrund, die Beine eingeklemmt. Selbst nachts sind die Wagen noch zu voll, um sich richtig hängen zu lassen.

Kein Wunder, daß diese Sitze manchen U-Bahn-Benutzer provozieren. Den Sprayern haben die Berliner Verkehrsbetriebe den Spaß verdorben: Auf dem wilden Muster verliert sich jede Kreativität. Höchstens zum Schlitzen scheinen die Polster geeignet. Also hängt dann und wann ein trauriger Lappen von der Bank herunter, und jeder hat die Wahl, sich direkt auf dem Schaumstoff niederzulassen oder stehen zu bleiben. Fühlt sich ein U-Bahn-Kunde ganz irre provoziert von dem schaurigen Sitz, wird selbiger gleich ganz herausgerissen.

Wo rohe Kräfte..., dachte sich jetzt die BVG. 14.000 Sitze muß sie jedes Jahr reparieren oder ersetzen, macht 2,6 Millionen Mark im Schnitt pro Jahr. Kein Pappenstiel für ein hochverschuldetes Unternehmen. Deshalb schritt die BVG schon 1997 erstmals zur Tat: Back to the roots!

Was früher gut war, kann heute nicht verkehrt sein. Also müssen wieder Holz-, jawohl: Holzsitze her! Holzklasse nicht nur für die Armen wie einst, sondern fürs ganze U-Bahn-Volk. Es kam allerdings nur zu kleinen Testfahrten. Zum Glück. Denn kaum hatte sich eine gewichtige Testperson auf dem antiken Stück niedergelassen, knarrte das Gebälk – und krachte.

Doch die Idee findet die BVG nach wie vor klasse. Graffiti ist leicht abzuwaschen, Kaugummis sind gut zu sehen, Aufschlitzen ist nicht. Jetzt verhandelt sie mit dem Hersteller. Wenn Konstruktion und Preis stimmen, soll es in diesem Sommer wieder losgehen: Holzklasse im Test auf der U1 und U2. Für U-Bahn-Kunden heißt es deshalb ab heute: Hintern trainieren, Hornhaut entwickeln! Und Schnitzen üben. Was Verliebten einst die Baumrinde, könnte kurz vor dem Jahr 2000 der U-Bahn- Sitz werden. Jutta Wagemann