Das große Sechstagefressen

Das Sechstagerennen, einst das Großereignis im Berliner Radsport, verkommt auch im neuen Velodrom mehr und mehr zur leblosen Verkaufsshow der Schultheiss-Brauerei  ■ Von Volker Weidermann

Der Reporter von Radio Hundert,6 bereitet sich auf den Live- Aufsager für seine Jubelsendung über das 88. Berliner Sechstagerennen vor. Er spricht von „toller Atmosphäre“, von „70.000 erwarteten Zuschauern“ und von „dramatischen Rennen“, als ein just vorbeikommender Backwarenverkäufer ihm ins Mikrofon grölt: „Vor dem Saufen Brezel kaufen!“ Erschrocken reißt sich der Reporter die Kopfhörer von den Ohren und entschuldigt sich bei seinen Zuhörern: „Ein paar Chaoten sind leider auch da.“

Es könnten ruhig ein paar mehr sein, denkt man bei sich. Denn die Stimmung ist eher von Gelassenheit, Ruhebedürfnis und Genußsucht geprägt. Das Publikum im Velodrom ißt, trinkt und schwätzt. Und die Radler radeln im Kreis. Irgendwie verzweifelt im Kreis. Immer schneller im Kreis, als könnten sie durch herausragende Geschwindigkeit doch noch das Publikumsinteresse erregen. Oder hoffen sie auf ein Ende der Bahn? Die ist rund und wird für sechs Tage eine endlose Strecke bleiben.

Wenn man die traurige Geschichte vom Sportler am Gängelband der Industrie einmal richtig drastisch bebildert sehen möchte, muß man zum Sechstagerennen gehen. Es ist ein so trauriges Schauspiel, zu sehen, daß absolute Radfahrgrößen sich abhetzen wie verrückt, während der Stadionsprecher alle vier Minuten blökt: „So, jetzt ist es aber mal wieder Zeit für ein schönes, kühles Schultheiss. Kommen Sie an unsere tollen Theken!“

Halten Sie sich fest

Oder er ruft: „Für den nächsten Rundengewinn hat die Gaststätte – Halten Sie sich fest, meine Damen und Herren – ,Not und Elend‘ 100 Mark ausgesetzt.“ Zum Glück lassen sich die Radprofis von solchen Frechheiten nicht zu noch größerer Eile drängen. Sie spulen ihr Rennprogramm souverän und unbeirrt kämpferisch herunter. Unabhängig davon, welcher BMW- oder Chio-Chips-Cup nun gerade vergeben wird. Ob jemand zuschaut oder nicht. Es sind zwei Welten, die hier zusammengekommen sind, und die haben im Grunde nichts miteinander zu tun. Hier die Radrennfahrer, die jeden Tag bis spät in die Nacht in ganz unterschiedlichen Rennkategorien um Punktgewinne kämpfen und dort die Sponsorenwelt, die möglichst viele trink- und freßfreudige Konsumenten in die Radwelt schaufeln will.

Doch für einen kurzen Augenblick überschnitten sich am ersten Abend die beiden Welten: In der Mitte der Arena, wo die Damen und Herren an nett gedeckten Tafeln sitzen mit kleinen roten Laternen, als sei man in einem Kuppeltelefonclub, werden die Leute plötzlich unsanft beiseite geschoben. Man pöbelt, ohne sich umzudrehen, denn wegschubsen lassen will man sich nicht. Bis man sieht, daß es Sanitäter sind, die sich herandrängeln, mit einer Bahre, auf der ein bewußtloser Radrennfahrer liegt. Mäßiges Entsetzen geht durch die Reihen, Leute hören kurz zu kauen auf, schauen ein bißchen angewidert und erschrocken. Niemand hat einen Sturz mitbekommen, und kurzzeitig scheint man so etwas wie ein schlechtes Gewissen zu haben. Aber schon ist der Bewußtlose weggetragen, und man kann weiterkauen. Oder einen der Schultheiss-Männer heranrufen, die auf dem Rücken Bierkanister tragen mit der Aufschrift: „Ich zapf Ihnen eins.“

Treudumm läßt die Brauerei in ihren Pressemappen verkünden: „Das Großereignis wird komplett in die Schultheiss Werbelinie integriert.“ Und so fühlt man sich auch wie auf einer Butterfahrt. Verkaufsstände, Gratisproben, Trinkstände und konsumfördernde Lautsprecheranlagen überall.

Schon vor siebzig Jahren wunderte sich der Journalist Joseph Roth in einer Reportage über das Berliner Sechstagerennen, daß die Leute nicht schon aussehen wie Megaphone. Oder wie eine Chipstüte, könnte man heute fragen, oder wie ein Bierfäßchen.

Ach, nach dem ersten Tag liegt übrigens das deutsch-belgische Team Andreas Kappes/Etienne de Wilde vor den Schweizern Bruno Risi/Kurt Betschart in Führung. Die beiden haben die einstündige große Schultheiss-Jagd nach einem glänzenden Finish um Haaresbreite gewonnen.