"Amnestie heißt nicht Amnesie"

■ Der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere (CDU) über die juristische Hilflosigkeit bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit und die Schwierigkeit, Recht und Moral auseinanderzuhalten

taz: Herr de Maizière, sie haben am 2. Oktober 1990 in ihrer Abschiedsrede gesagt: „Manche Schatten der Vergangenheit sind besonders dunkel und werden noch lange Wirkung zeigen.“ Jetzt wird über eine Amnestie von DDR-Unrecht debattiert. Sind die Schatten verblaßt?

Lothar de Maizière: Ich habe damals auch gesagt: „Wir wollen dieses Kapitel unserer Geschichte ehrlich und umfassend aufarbeiten. Am Ende – nach der notwendigen Klärung von Schuld und Unschuld – müssen Aussöhnung und Befriedung der Gesellschaft stehen.“ Die meisten, die bislang mit der Aufarbeitung zu tun hatten, können die Kategorien Recht und Moral nicht auseinanderhalten. Sie dachten, die Justiz könne die moralische Aufarbeitung leisten. Dazu ist sie aber nicht da. Wir haben die Juristen als Mülleimer der Gesellschaft benutzt und geglaubt, per Strafverfahren sei die moralische Aufarbeitung der DDR abwickelbar. Das ist gescheitert.

Inwiefern?

Ein Beispiel: Gegen SED-Wirtschaftsboß Günter Mittag wurde wegen Untreue ermittelt, weil er angeblich Verwandten drei oder vier Häuser zugeschanzt haben soll. Angesichts des wirtschaftlichen Scherbenhaufens, den er fabriziert hat, ist das eine Bagatelle. Er hat eine ganze Volkswirtschaft ruiniert. Aber das ist strafrechtlich nicht relevant. Egal ob Erich Mielke, Margot Honecker oder andere: An ihren Beispielen wird deutlich, daß Recht nicht die ewige, himmlische Gerechtigkeit auf Erden herstellen kann. Recht ist keine Tugend- und Moralordnung, sondern eine Friedens- und Erhaltungsordnung. Recht muß den Zustand der Gesellschaft erhalten und unter Umständen gar Spielregeln für moralisch Zweifelhaftes aufstellen. Ich denke beispielsweise an die Prostitution, die moralisch zwar abgeschafft gehört, aber de facto nicht abschaffbar ist.

Der Bürgerrechtler Hans-Jochen Tschiche erklärte in der taz: Aufarbeitung braucht einen angstfreien Raum. Hat er damit recht?

Die Frage, die hinter dem Amnestievorstoß steht, lautet in der Tat: Hat uns die Androhung von strafrechtlicher Verfolgung eine andere Möglichkeit der DDR- Aufarbeitung genommen? Ich bin überzeugt, daß ein System nicht schuldig werden kann. Dagegen glaube ich, daß diktatorisch konstruierte Systeme Menschen leichter in Schuld führen als demokratisch konstruierte. Das heißt: Wenn wir nicht wollen, daß sich etwas DDR-artiges wiederholt, müssen wir analysieren, wie das System konstruiert war. Am besten könnten uns darüber Leute wie Markus Wolf Auskunft geben. Solange er aber für seine ehrliche, redliche Auskunft mit einem Strafverfahren rechnen muß, wird er schweigen – und das zu Recht. Ich bin für eine Amnestie, weil sie uns neue Chancen eröffnet. Sonst passiert uns das, was der Zyniker Napoleon gesagt hat: Das wahre Bild der Geschichte ist die Summe der Lügen, auf die sich eine Gesellschaft nach 30 Jahren geeinigt hat.

Sie sind nicht bereit, noch 20 Jahre zu warten?

Eigentlich nicht. Aber solange es juristische Vergeltung gibt, werden sich die Menschen vorrangig rechtfertigen. Man kann ein Volk nicht in Täter und Opfer einteilen. Es gab fünf Prozent Täter, fünf Prozent Opfer, der Rest war Volk, das versucht hat, sich in dem System einzurichten.

Es hat lediglich 22 Urteile mit Haftstrafen gegeben. Wie bewerten Sie als Anwalt die juristische Aufarbeitung der DDR?

Das Bundesverfassungsgericht hat sich der Radbruchschen Formel bedient. Reichsjustizminister Gustav Radbruch war ein Justizpositivist, der sagte, daß nur das als strafrechtlich relevant verfolgt werden kann, was tatsächlich im Gesetz festgeschrieben ist. Als er aber nach dem Krieg entsetzt vor Auschwitz stand, meinte Radbruch: Es kann nicht sein, daß die Nazis davonkommen sollen, weil ihr zurechtgebasteltes Recht diese Taten deckte. Radbruch änderte seine Meinung: Wenn die Summe des Unrechts so hoch ist, daß sie auch ohne Kenntnis der geltenden Rechtsordnung als Unrecht empfunden wird, muß der Täter belangbar sein. Durch ein vorstaatliches Recht, eine Art Naturrecht. Darauf berief sich das Bundesverfassungsgericht: Selbst wenn die Tat des Mauerschützen durch geltendes DDR-Recht gedeckt war, hätte der Schütze erkennen müssen, daß es sich – wenn er schießt – um Unrecht handelt.

Der 18jährige Erzgebirgler, der weder Westfernsehen noch Westverwandte, dafür aber Schießbefehl und Strafe bei Verweigerung kannte, hätte sagen müssen: Ich mach' so etwas Unmoralisches nicht, ich schieße nicht?

Genau das ist für mich die Frage! Ich kann von dem 18jährigen kaum erwarten, daß bei ihm moralische Alarmglocken schrillen oder gar tiefsinnige Überlegungen über das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ ausgelöst werden. Zumal er das Gebot womöglich gar nicht kannte, weil es nicht zu seinem Ausbildungshorizont gehörte. Das Eis, auf das sich das Bundesverfassungsgericht begeben hat, ist sehr dünn.

Nachdem die kleinen Grenzer verurteilt wurden, mußte man auch die nächsthöhere Entscheidungsebene auf die Anklagebank holen?

Genau. Und da kamen merkwürdige Urteile raus. Beispielsweise das gegen Egon Krenz. Angenommen, er ist im strafrechtlichen Sinne verantwortlich für Tote an der Mauer. Wieso bekommt er dann nur sechseinhalb Jahre, während ein anderer Mörder zu lebenslänglich verurteilt wird. Oder anders: Wieso muß Krenz sechseinhalb Jahre hinter Gitter, wenn er nicht verantwortlich ist. Dieses Urteil illustriert die juristische Hilflosigkeit bei der DDR-Aufarbeitung.

Braucht eine Amnestie einen moralischen Grundkonsens der Gesellschaft?

Sicherlich. Eine Amnestie macht nur dann Sinn, wenn die Bevölkerungsmehrheit sagt, wir finden es richtig, daß Schluß sein muß. Wenn sie sagt: Wir können uns nicht dauerhaft von 10.000 Opfern vorschreiben lassen, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen sollen. Der Streit von Bubis und Walser ist ganz ähnlich. Auch Walser sagt, wir können uns nicht dauerhaft von den Nachkommen der Auschwitz-Opfer vorschreiben lassen, wie wir mit unserer Zukunft umgehen. Amnestie heißt doch nicht Amnesie. Es will ja keiner vergessen, sondern die strafrechtliche Verfolgung beenden. Sachsen- Anhalts Ministerpräsident Reinhard Höppner sagt, es geht gar nicht mehr vordergründig um Amnestie, sondern um Integration. Es geht darum, wie die Ostdeutschen im geeinten Deutschland ankommen. Wir brauchen einen Zeitpunkt, wo gesagt wird, jetzt ist der Beitritt abgeschlossen. Punkt. Interview: Nick Reimer