Interpretatorischer Imperativ

■ „Einen Dichter denken. LAUT“ ersetzt nicht, einen Dichter zu lesen – selbst dann, wenn Ulrich Mühe laut Heiner Müller denkt

Einen Dichter kennen ist recht einfach und erfordert nicht mehr als ein paar Schlagworte: Heiner Müller, Dramatiker, Theaterregisseur und zeitweiliger Chef des Berliner Ensembles, geboren am 9. Januar 1929, gestorben 1995 in Berlin. Schwieriger wird es schon beim zweiten Schritt, denn eigentlich wollen Dichter ja auch gelesen werden, und das ist bei Müller mit beträchtlichem Zeit- und Grübel-aufwand verbunden.

Der Schauspieler Ulrich Mühe hat hier ein helfendes Treppchen gebaut, das das an Lyrik interessierte Publikum nutzen kann: Unter dem Titel Einen Dichter denken. LAUT stellt er eine Hommage an den „unbequemen deutschen Dichter“ vor, der am Samstag 70 Jahre alt geworden wäre.

Das laute Denken dauert 70 Minuten und entpuppt sich als Sprechen, Spielen und Vorlesen, das nur gelegentlich von der pointiert eingesetzten E-Gitarre Erich Gramshammers unterbrochen wird. Entspannend ist dieser Abend nicht, aber allzu unbequem auch nicht, denn dazu ist es zu faszinierend, Ulrich Mühe auf der Bühne zu sehen. Mit kleinen und gewaltigen, doch nie pathetischen Gesten untermalt er seinen Vortrag, spielt mit dem Chefsessel, dem Vorhang und der schäbigen schwarzen Bühnenwand – für das Eindenken in Heiner Müllers sperrige Gedankenwelt bedeutet Mühes Interpretation die wohl maximale Hilfestellung.

Daß dieses Eindenken dennoch an Grenzen stößt, liegt in der Natur der Texte. Er habe „das Bedürfnis, den Leuten so viel aufzupacken, daß sie nicht wissen, was sie zuerst wegtragen sollen“, so Müller selbst über seine schriftstellerische Intention. Zwar hat Ulrich Mühe durch seine Auswahl – er trägt fünf Texte aus den Jahren 1968 bis 1982 in Auszügen vor – die schwersten Steine aus dem Weg geräumt. Doch ist es kein Wunder, daß die beiden erzählenden Stücke, Teile aus Der Auftrag und Zement, den stärksten Eindruck hinterlassen.

Da steigt ein Angestellter auf dem Weg zum Chef aus dem Fahrstuhl und findet sich auf einer Dorfstraße in Peru wieder. Einen Jäger, der im Wald nach seinem Beutetier sucht, trifft es noch härter: Er muß feststellen, daß der Wald, das Tier und er selbst die Beute sind. Die Überraschungsmomente werden vom Publikum dankbar angenommen, mildern sie doch den interpretatorischen Imperativ. Die Lyrik von Prometheus, Hamletmaschine und Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten bleibt dagegen nur in Bruchstücken und halben Metaphern hängen. Und so wird es auch weiterhin heißen müssen: Einen Dichter lesen – Heiner Müller am besten laut, aber auf jeden Fall selbst.

Barbora Paluskova

noch am Montag, 25. Januar, 20 Uhr, Kammerspiele