■ Knauer, Karasek, Kirsten – auch 1999 bietet wieder viel Literatur und Wahnsinn
: Hochbrisante Stories

Erst kurz vor Toresschluß lief das Literaturjahr 1998 zu regelrechter Hochform auf. Zwar hatte Marcel Reich-Ranicki schon 1967 Martin Walser für einen Theaterabend verantwortlich gemacht, „der sich als außergewöhnlich langweilig und abgeschmackt und streckenweise sogar als dümmlich erweist“ (Die Zeit, 15. Dezember 1967); doch erst die letzte 98er Folge von Reich-Ranickis Räuberrunde „Das literarische Quartett“ (ZDF) ließ dem Stumpf- und Stursinn richtig rund und rasend seinen Lauf, und zwar nicht angelegentlich des Casus Walser, sondern hinsichtlich Nick Hornbys fabelhaftem Roman „About a Boy“.

„Ich will mal sagen“, blödelte Hellmuth Karasek betont quallig, aber ungewohnt gallig herum, „es ist nicht mein Buch. Weil diese Heruntererzählerei ist wie im amerikanischen Film“ – als ob einer, der mit dem ranzigen Schlüssellochschinken „Das Magazin“ den plumpesten Buchstabenklotz des Jahres geschnitzt hatte und gewöhnlich den recht amerikanischen Filmemacher B. Wilder behudelt, überhaupt noch die Klappe aufreißen sollte. Von Reich-Ranicki wiederum geht die Sage, er lese seit geraumer Zeit keines der Quartett-Werke mehr und lasse sich seine Urteile einflüstern. Wann bespricht die Bande endlich ihren eigenen Schund, den Wahn zu perfektionieren? Genau eine Woche später, am 17. Dezember, rezensierte der Lyrikforscher Walter Hinck für die FAZ Wulf Kirstens Kompendium „Textur – Reden und Aufsätze“. Kirsten, ein gestandener Poet aus der ehemaligen DDR, beweise einmal mehr, wie die Gattungsgrenzen des Naturgedichts mit Blick auf die Gegenwart überwunden werden könnten: „Er spricht von der Annullierung geschichtlicher Prozesse und gültiger Verträge durch Besitzdenken und von der Morgenluft, die nun die ,alten Anpasser‘ wittern.“ Mit „Anpassern“ indes sind nicht Kirstens Brotherren gemeint: „Mit Samthandschuhen der Zustimmung und Zuneigung dagegen nähert sich Kirsten den Managern Voß und Calmund“, resümierte Hinck und vergaß, die Wiedergeburt der Stalinhymne in Gewand und im Geiste der sportlichen Autobiographie zu tadeln. Denn spielt Wulf Kirsten nicht bei Leverkusen? Da stimmt doch gar nichts mehr.

Auch Eichborn, das Verlagshaus mit dem Dachschaden, schert sich nur noch ironisch um die Unterscheidung von Kunst und Hochstapelei. Für das Frühjahr 1999 kündigt es einen „Politthriller“ an – verantwortet ausgerechnet durch Sebastian Knauer, jenen Riesenjournalisten, der 1988, nach seiner grandios investigativen Spurenvernichtungstat, prompt vom Stern zum Spiegel wechselte. Hier droht garantiert nicht ein „faszinierend detailgenauer, temporeicher Politthriller“ (laut Eichborns Prospekt), sondern vielmehr ein 272 Seiten zu dicker und 36 Mark zu teurer neuerlicher Selbstbeweihräucherungsversuch.

Jan Heidmann wird Knauers „Reporter eines großen Nachrichtenmagazins“ heißen. Er ist „einer hochbrisanten Story auf der Spur. Es besteht der Verdacht, daß der Spitzenpolitiker Becker von seiner ehemaligen DDR-Geliebten Ilka Sturm ausgeforscht worden ist.“ Es gebe ein uneheliches Kind, und „der CIA“ (eigentlich: die CIA) wisse Bescheid. „Seine Geschichte läßt hoffen.“ dröhnt Eichborn, „daß sie tatsächlich nur erfunden ist. Und sie beweist, daß auch deutsche Autoren Meister in diesem Genre sein können.“

Ich gehe jede Wette ein: Knauers Werk der Baumvernichtung gleicht Zeile für Zeile dem 1997 weggekloppten Spiegel-Dreiteiler „Rätsel-Fall Barschel – Der fast unmögliche Selbstmord“. Zu erfahren war da, daß Uwe „Borschl“ Barschel regelmäßig ein Bordell an der Schönhauser Allee in Rostock heimsuchte und Mielke Borschls „internen Terminkalender“ studierte.

Den Spiegel-Vorabdruck lesen wir dann im März. „Die Recherche“ („Weltrecht“, nein „Weltraumrechte: Eichborn“) erscheint einen Monat später. Womit der literaturbetriebliche Circulus vitiosus für 1999 schon geschlossen wäre. Jürgen Roth