Vision der farbenblinden Gesellschaft

In den USA werden staatliche Maßnahmen und Quotenregelungen für Minderheiten in einigen Bundesstaaten zurückgenommen. Es triumphiert der Traum von individueller Chancengleichheit  ■ Von Meral Ruesing

Aden Allen, ein High School Absolvent aus Oakland, hatte die erste Hürde im harten, amerikanischen Wettbewerb um berufliche Erfolgsaussichten glücklich gemeistert: Er erhielt die Zusage für einen Studienplatz am Berkeley Campus der University of California (UCB) nahe San Francisco, einer staatlichen Eliteuniversität. Kurz vor Beginn des Studienjahrs 1998/99 erklärte der 17jährige Schwarze seinen Verzicht. „Ich habe mich letztlich gegen das Studium in einem Staat entschlossen, der sein Engagement für Integration, Pluralismus und Chancengleichheit aufgegeben hat.“

Im September 1996 hatte sich eine Mehrheit der kalifornischen Wähler per Referendum für die Annahme von „Proposition 209“ und damit gegen die staatliche affirmative action ausgesprochen. Affirmative action berücksichtigt bei ansonsten gleicher Qualifikation Faktoren wie Hautfarbe, ethnischer Ursprung und/oder Geschlecht bei der Vergabe öffentlicher Studien- und Arbeitsplätze, Aufträge und Beförderungen. Ziel solcher Maßnahmen ist die Schaffung von Integration und Chancengleichheit diskriminierter Minderheiten in den USA.

Nach einer zweijährigen Übergangsperiode administrativer Anpassung repräsentieren die kalifornischen Erstsemester des Jahrgangs 1998/99 die erste „post-affirmative action“-Generation der USA in der 40jährigen Geschichte dieser Programme. Mit sichtlichen Resultaten: In Berkeley, der selektivsten öffentlichen Universität, hat sich der Anteil schwarzer Studenten um 62 Prozent, derjenige hispanischer Studenten um 46 Prozent verringert. Am zweiten Elite- Campus der University of California in Los Angeles (UCLA) sind nunmehr 40 Prozent weniger African-Americans und 24 Prozent weniger Latinos eingeschrieben. Sollte sich dieser Trend über die nächsten Jahre fortsetzen, „wird die University of California zur Segregation zurückkehren“, warnt UCLA-Vizekanzler Theodore R. Mitchell. Erneute Apartheid droht nicht nur im Hochschulbereich, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt.

Abzuwarten bleibt darüber hinaus, ob sich Kalifornien einmal mehr als politischer Trendsetter erweisen wird. Am 3. November dieses Jahres jedenfalls folgten die Bürger des Staates Washington dem kalifornischen Beispiel und beendeten die affirmative action per Referendum.

Für die Gegner der affirmative action wird Chancengleichheit durch rechtliche Gleichstellung und neutrale Kriterien gewährleistet. Ward Connerly, schwarzer Sprecher der Initiatoren der „Proposition 209“, interpretiert das Ende der affirmative action in Kalifornien als wesentlichen Schritt in Richtung einer „farbenblinden“, sprich: gleichberechtigten Gesellschaft. Diese Haltung „ist blind für die Konsequenzen, in Amerika mit der falschen Hautfarbe geboren zu sein“, kritisiert Julian Bond, Vorsitzender der „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP). Affirmative action als Gruppenrecht, so Bond, ist notwendige Voraussetzung individueller Chancengleichheit.

Der Widerwille, den einzelnen primär im Hinblick auf Rasse oder Klasse zu definieren, sei ein tief verwurzeltes kulturelles Ideal der USA, meint der Politikwissenschaftler John R. Wallach, Co-Autor einer Studie der Havard Law School über Chancengleichheit im Hochschulwesen. Insofern reflektiert die Auseinandersetzung um affirmative action die Fortsetzung eines uramerikanischen Widerspruchs: Als die Gründerväter verkündeten, „that all men are created equal“ und jedes Individuum das Recht auf „life, liberty, and the pursuit of happiness“ habe, bestätigte die erste amerikanische Verfassung die diskriminierendste aller Gruppenidentifikationen: die Sklaverei. Bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts wurden schwarzen Amerikanern de facto und de jure elementare Rechte verweigert. Erfolgsgerichtete Anti-affirmative-action-Kampagnen wie in Kalifornien – dort leben 52 Prozent Weiße, 30 Prozent Latinos, 7 Prozent African-Americans, 11 Prozent Asian-Americans – bestreiten sowohl den Anspruch auf historische Wiedergutmachung als auch die Notwendigkeit pluralistischer Zusammensetzung wesentlicher Bereiche des öffentlichen Lebens in einer multikulturellen Gesellschaft.

Das weitere Schicksal der affirmative action auf nationaler Ebene ist abhängig von künftigen Entscheidungen des Bundesgesetzgebers und des Verfassungsgerichts. Mit Spannung wird auf die Reaktion des U.S. Supreme Courts gewartet. Das Gericht gilt in seiner Mehrheit derzeit als konservativ. Der einzige schwarze Verfassungsrichter, Clarence Thomas, verdankte seinen Studienplatz einst einer Quotenregelung zugunsten ethnischer Minderheiten und gilt heute als ausgesprochener Gegner der affirmative action. Thomas' Vorgänger war der liberale, weiße Richter Rhurgood Marshall, Verfasser legendärer Urteile zugunsten der Rechte von Minderheiten – wie etwa den Anspruch auf affirmative action. „Ich bin kein intellektueller Sklave meiner Hautfarbe“, entgegnet Richter Thomas seinen Kritikern, die ihn als „Verräter“ brandmarken, und erklärt im übrigen die affirmative action zu einem weiteren Symbol des diskriminierenden Stigmas schwarzer Minderwertigkeit.

Sozialwissenschaftler warnen derweil vor wachsender Konfliktbereitschaft derer, welchen das potentielle Aus der affirmative action den Zugang zu wesentlichen Bereichen des öffentlichen Lebens verweigern würde. Um einem solchen Rückfall in die Segregation vorzubeugen, suchen Befürworter integrativer Maßnahmen fieberhaft nach Möglichkeiten der „alternative action“: Insbesondere in den Hochschulen der bisher betroffenen Staaten Kalifornien, Texas, Mississippi und Louisiana werden Aufnahmekriterien für Studienbewerber formuliert, welche Pluralismus ermöglichen ohne gegen das Verbot der affirmative action zu verstoßen. Das Ergebnis der Debatte ist derzeit offen. Offen ist auch, ob die Vision einer „farbenblinden“ amerikanischen Gesellschaft reine Utopie bleibt.