Wo Es war, soll Wir werden

Denkmalsgänger sollten nicht mit einer Verewigung des schlechten Gewissens, sondern mit dem Zeugnis eines verunmöglichten Erbes konfrontiert werden. Zu den Funktionen von Denkmälern und Mahnmalen. Ambivalenzen eines Holocaust-Denkmals  ■ Von Daniele Dell' Agli

Wie schwer die Deutschen sich mit ihren Denkmälern tun, kann man laut Robert Musil schon daran erkennen, daß man nie weiß, ob man Denkmale oder Denkmäler sagen soll. In dieser Unentschiedenheit schwingt die Warnung mit, daß es zu viele davon gibt und daß man am besten nur im Singular von ihnen redet. Das ist wiederum leichter gesagt als getan, wenn man bedenkt, wie vielen Pflichten solch ein Bauwerk – oder ist es eine Plastik? – genügen und wie viele Projektionen es aushalten können muß. Lediglich beim Mahnmal ist der Plural unumstritten, die Deutschen lassen sich eben leichter ermahnen, als zum Denken anstiften; leider „spricht einiges dafür, daß Mahnmale nur so lange wahrgenommen werden, wie sie umstritten sind. Aber schon der Streit überschätzt ihre mögliche Wirkung“ (Walter Grasskamp).

Es gibt warme und kalte, nahe und ferne, poröse und hermetische Denkmäler. Solche haptischen, synästhetischen und vor allem atmosphärischen Empfindungen stellen sich unabhängig vom Symbolgehalt der Bauwerke oder Plastiken ein; doch sie bleiben den Zeitgenossen ihrer Entstehung unzugänglich; in ihrem Bewußtsein schließen Denkmäler vor allem etwas ab: eine exemplarische Biographie, eine Epoche, die Auseinandersetzung mit kollektivem Unglück, mit Katastrophen oder dem überstandenen Krieg. Weil sie das Ende eines Prozesses markieren, sind Denkmäler darum zunächst Grabmäler. Sie sollen die Erinnerung an das Gewesene weitertragen, doch für diejenigen, die schon vor ihnen auf der Welt waren, sind sie mit der Vergeblichkeit des Nachträglichen und dem Ärgernis des Nachtragenden behaftet: sie tragen den Lebenden den Vorwurf der Toten nach, sie überlebt zu haben. Wann immer die Unzugänglichkeit von Denkmälern bloß beklagt und nicht als Faszinosum wahrgenommen wird, resultiert sie paradoxerweise aus einem Mangel an Fremdheit aufgrund ihrer zeitlichen Nähe zu dem, wovon jene Zeugnis ablegen. Solange bleibt auch ein Gefühl ihrer Unangemessenheit im Betrachter wach.

Erst späteren Generationen öffnen sich die steinernen Ensembles in dem Maße, in dem sie zu Ruinen verwittern: ein Zerfallsprozeß, der wiederum den Untergang jener Kultur voraussetzt, die sich die Monumente einst erbauen ließ. Der historische Abstand beziehungsweise die Halbwertzeit ihrer ästhetischen Anziehungskraft verkürzt sich, wenn es sich um die Überreste von Herrschaftsarchitekturen handelt, an denen sich – vom Colosseum bis zum Nürnberger Parteitagsgelände – die einstige Funktion noch ablesen läßt. Dabei ist die Erfahrung des Erhabenen als eines jede Vorstellbarkeit Übersteigenden (und darum Überwältigenden) nicht an die Größe oder Imposanz des Objekts gebunden, wie jeder weiß, der schon einmal vor einem Menhir stand; entscheidend ist vielmehr seine Transzendenz gegenüber dem Erlebnis- und vor allem dem Wissenshorizont des Betrachters: es muß ihn gleichsam aus einem ahistorischen Raum ergreifen, wie ein Relikt aus dem kollektiven Unbewußten erratisch in sein Bewußtsein ragen, um ihm jede Zuflucht bei rationalen Erklärungen zu versperren. Vielleicht muß man vergessen, was man über Auschwitz weiß, um akzeptieren zu können, daß es geschah; die Erinnerung an dieses Vergessen wiederum würde einer materialisierten Traumreminiszenz gleich den Glauben an die Selbstverständlichkeit unseres verfassungsmäßig garantierten Minimums an Zivilisation erschüttern; je symbolferner und didaktisch unprätentiöser das Erinnerungsmal, desto nachhaltiger die Verstörung darüber, daß Es möglich war. Alles andere versiegelte Vergangenheit zum Parkett für veranstaltete Gewissensberuhigung: Bummel mit Staatsgästen, „Kranzabwurf“; Gruppenreisen, Erinnerungsfoto.

Von den „vier Formen des Schweigens“, die nach Agnes Heller den Holocaust umgeben – „das Schweigen der Sinnlosigkeit, das Schweigen des Schreckens, das Schweigen der Scham, das Schweigen der Schuld“ –, wird vielleicht nur das Schweigen der Sinnlosigkeit bleiben: diesem kann nicht mit einer schwerpunktmäßig gefächerten Mnemothek, einem Gedächtnisbazar à la Naumann Gestalt verliehen werden. Ein Mahnmal der Sinnlosigkeit hätte vielmehr der Unvereinbarkeit zwischen dem jüdischen Erinnerungsimperativ (zachor!) und einem europäischen Geschichtsbewußtsein Rechnung zu tragen, das, zumal in Mitteleuropa, ungleich stärker von der christlichen Zukunftsfixierung und neuerdings wieder von der paganen Feier der Gegenwart geprägt wird. Die Übertragung jüdischer Erinnerungsemphase in einen zunehmend neoheidnischen Kulturzusammenhang mußte daher zur Fetischisierung von Erinnerung als Allheilmittel gegen die chronischen Leiden einer konzeptuell unbedarften Aufklärung – Traditionsmangel, Phantasielosigkeit, Zukunftsangst – führen. Mehr noch: Wie Sigrid Weigel gezeigt hat, macht „der Imperativ vom Nicht-Vergessen-dürfen“ deutlich, „daß das Erinnerungsgebot als Über-Ich-Funktion begriffen wird. Auf ein solches Gebot ist nur mit Gehorsam oder Verweigerung zu reagieren, mit Haltungen also, die das Verhältnis von Instanz und Akteur zu verändern nicht geeignet sind.“ (vgl. in: G. Smith, H. Emrich, Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996). Nichtjuden, die schon die Sprache das Er-innern als einen Akt des Innewerdens von zuvor Verinnerlichtem lehrt, Gedenkübungen rituell und autoritativ zu verordnen, heißt, ihnen nahezulegen, sie als eine besonders wirksame Form des Vergessens, nämlich als Gedankenlosigkeit zu praktizieren.

Ein Denkmal für die Opfer der Endlösung muß darum jene einbeziehen, die ihrer gedenken, aber nicht als Nachfahren der Täter, was nur Anlaß zur Scham wäre, sondern als Nachgeborene einer Kultur, die ihre eigene hätte sein können, wäre sie nicht mit den Juden ausgelöscht worden. Verbrechen kann man bedauern oder verabscheuen, ihre Opfer beklagen; Trauer jedoch setzt immer die Empfindung eines Verlusts voraus. Wenn Trauerarbeit bei der überwiegenden Mehrheit der vom Holocaust nicht biographisch Betroffenen mehr sein soll als touristische Andacht, muß sie auch der Folgen des Genozids gedenken. Dazu dürfen sich deutsche Denkmalsbesucher den Toten nicht als Angehörigen einer ausgeschlossenen, verfemten und verfolgten Glaubensgemeinschaft gegenübergestellt sehen; sie müssen ihnen wie einem Teil ihrer selbst, nämlich ihrer abgeschnittenen und unwiederbringlichen Vorgeschichte begegnen. Das entsprechende Denkmal dürfte zwar nicht den Schein erwecken, als wollte es wenigstens symbolisch eine verlorene Einheit deutsch-jüdischer Lebenswelten reintegrieren, die es in diesem verklärenden (symbiotischen) Sinn nie gegeben hat; ebensowenig aber sollte es jene unversöhnliche Differenz zwischen Deutschen und Juden perpetuieren, die doch erst der Nationalsozialismus propagiert hat. Erst wenn deutsche Denkmalsgänger nicht mit der Verewigung des schlechten Gewissens von Täterkindern, sondern mit dem stummen Zeugnis eines verunmöglichten Erbes konfrontiert würden; wenn sie den Mord an den Juden auch als Selbstmord „ihrer“ Kultur begreifen könnten, wüßten sie um den Verlust und in der Trauer darüber auch um den jeder Trauer sich entziehenden Verlust.

Jörn Rüsen hat den Gegenstand einer solchen historischen, Generationen übergreifenden Trauer grundsätzlicher beschrieben: es ist der Zivilisationsbruch, der Verlust des Humanum, der fundamentalen Selbstaffirmation des Menschen als etwas Besonderem und Wertvollem, die durch den Holocaust radikal negiert wurde. Man kann diese Dimension konkretisieren, indem man feststellt, daß die Gefährdung des Menschseins seit Beginn der Hochkulturen sich nirgends so konstant und dramatisch offenbart wie am Schicksal der Juden. Sie repräsentierten stets den Exodus, das Exil, die Fremdheit in einer (jeder) Gesellschaft, weil man sie in ihrem Anderssein nicht anerkannte (Maurice Blanchot).

Die Trauer über den Verlust jeglichen Maßstabs für den Wert des Menschlichen ist demnach nicht zu trennen von der Trauer über den Verlust dieser Andersheit. Beider Momente zu gedenken ermöglichte erst, sich darüberhinaus zu vergegenwärtigen, daß diese Andersheit im Zivilisationsprozeß ohne solche Opfer nicht zu haben war und daß eine menschenwürdige Zukunft wiederum nur um das Opfer dieser Dimension des Andersseins möglich sein wird. Das Verschwinden von Alterität als ethische Grunderfahrung und (langfristig) als exklusives Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen verschiedener ethnischer oder religiöser, rassischer oder sexueller Herkunft – das scheint seit 1945 das kulturelle Vereinheitlichungsprojekt im Zeichen einer Universalisierung der Menschenrechte zu sein. Auch dies fürwahr ein Grund zur Trauer: daß die notwendige Anerkennung der Differenz nur eine friedliche – im Spannungsbogen einzelner Lebensläufe kaum faßbare – Form ihrer Auslöschung darstellt.

Erst ein Denkmal, das erlaubte, angesichts des sinnlosen Todes von Millionen Juden auch dieser Langzeitfolgen des Zivilisationsbruchs zu gedenken, wäre kein Über-Ich- Mal für zufällig im Land des Massenmords Geborene und würde nicht nur deutschen Besuchern die Möglichkeit eröffnen, einen Verlust einzugestehen, den die Fokussierung auf die Verbrechen immer noch mit der zwangsläufig verjährenden Schuldfrage überlagert. Gerade das Ideal der Unversehrtheit des Menschenlebens verlangt eine von Schuldängsten unbefangene Affirmation, die der Versuchung widersteht, die jeweilige Gegenwart im Namen einer immer ferner rückenden Vergangenheit zu verdrängen. Für die doppelte Perspektive des distanzierenden „sie“ und des involvierenden „wir“ gibt es noch keinen geeigneten Denkmalsentwurf. Unlängst hat Peter Eisenman die „doppelte Lesbarkeit“ seines Entwurfs betont: „Von außen sieht es tatsächlich ruhig und friedlich aus... aber ihre Erfahrungen werden die Besucher in den schmalen Gängen nur als Individuen machen können, kein Führer wird sie hindurch geleiten. Nichts ist voraussehbar, es gibt kein Zentrum, keinen Fokus, keine Repräsentation... Man fühlt sich nicht sicher in diesem Projekt, vielleicht fühlt man sich allein und verloren, man weiß nicht wo man ist... So geht es mir weniger um ein ästhetisches Erlebnis als um eine kritische oder begreifende und hautnahe Erfahrung.“

(Die Zeit vom 10.12.98) Gegen Eisenmans Modell spricht im Zusammenhang der hier vorgetragenen Überlegungen nicht viel, es mag sogar nur eine Frage der Proportionen sein, aber die ist entscheidend: es bietet keinen Gesamtanblick, kein überschaubares Ganzes, von dem sich ein Gegenüber absetzen könnte; keinen Außeneindruck, der mehr wäre als eine irreführende Einstimmung. Der Besucher soll einen harmlosen Stelenfriedhof betreten, sich immer tiefer in die Umzingelung der wachsenden Monolithe begeben und die Orientierung verlieren. Das ist dramaturgisch zwar eine unerwartete und sicher sinnvolle Eskalation, aber es fehlt der Kontrast sich ergänzender Einstellungen: die Totale für den distanzierenden Schauer und die drückende Nähe des unversehentlichen Verstricktseins; der undurchdringliche Wald dort und die begehbaren Baumfluren hier; Stand und Durchgang, Zustand und Vorgang, Erinnerung beziehungsweise Vergessen und Ahnung; der vergegenständlichte Raum der Vergangenheit und das körperliche Ambiente der Gegenwart. Mitten im peinlichen Parcours kann womöglich Panik aufkommen, aber kein verstörtes Stehenbleiben, kein Innehalten wird den Läufer wieder zum Betrachter machen und so die Erfahrung des Körpers, wie Eisenman es postuliert, wieder mit der des Geistes verbinden. Denn die Fremdheit des Anorganischen teilt sich nur dem Betrachter mit: als Erstarrung (und damit Suspension) seiner Projektionsenergien, als Enteignung des Mitgebrachten, Vorgewußten, die den Spielraum der Reflexion öffnet. Dazu bedarf es der Konfrontation aus der Ferne.

Mit der archaischen Nacktheit und Wucht seines Lithodroms, der klaustrophobischen Häufung und Staffelung der Stelenfluchten hat Eisenmans Entwurf zweifellos die bislang überzeugendste Annäherung an eine schier unlösbare Aufgabe geleistet. Seine tausendfach wiederholte Frage bleibt ohne Antwort; sie hinterläßt die Leere einer unheimlich gewordenen Welt. Hier muß Zivilisation neu beginnen. Daß sie diesen Neubeginn gemacht hat, dafür gibt dieser Entwurf allerdings keinen Anhaltspunkt, obwohl seine Möglichkeit doch dafür steht. Solange diese Möglichkeit nicht erfaßt werden kann, bleibt es ein Denkmal für die Vergangenheit, nicht für die Zukunft. Denkmäler der Vergangenheit aber gibt es genug.