Chinas Fortschritt findet anderswo statt

In der armen chinesischen Bauernprovinz Henan sterben die Juden und echten Kommunisten aus, doch außer dem Wechsel von Überschwemmungen zu Wassermangel hat sich in der Provinz am Gelben Fluß wenig verändert  ■ Aus Kaifeng Georg Blume

Inmitten der alten Kaiserstadt Kaifeng in der zentralchinesischen Provinz Henan steht eine mächtige katholische Kirche, die vor 80 Jahren von italienischen Missionaren errichtet wurde. Von ihrem stolzen Portal sind es nur wenige Schritte bis zu der kleinen, ungepflasterten Gasse, die seit 1.000 Jahren einen besonderen Namen trägt: „Gasse der Thora-Lehre“ (Nan Jiao Jing Hutong) verkündet ein verrostetes Straßenschild. Hier wohnt im Haus Nummer 21 die letzte Jüdin von Kaifeng.

Im Hof ist Kohle gestapelt. An der Haustür lehnt ein Besen aus zusammengebundenem Bambus. Drinnen muß es kalt sein, denn die Fenster der niedrigen Steinhütte sind nur mit Plastikfolie geschützt. Cui Shuping kocht gerade das Mittagessen aus Reis und Spinat. Wie alle Kaifeng-Juden der letzten Jahrhunderte unterscheidet sich die alte Frau äußerlich nicht von ihren chinesischen Mitbürgern. Cui wurde zudem nicht als Jüdin geboren. Im jungen Alter heiratete sie in die jüdische Familie ihres vor zwei Jahren verstorbenen Mannes ein und übernahm von ihm den Glauben. „Vor 1.000 Jahren, am Ende des 10. Jahrhunderts, kamen die Juden aus Israel nach China, um dem Kaiser ihre Geschenke zu bringen“, erinnert sich die 72jährige pensionierte Steuerbeamtin an die Vorfahren ihres Mannes. „Damals ernannte der Kaiser dieses Viertel zum jüdischen Bezirk“.

Im Hinterhof des Hauses Nummer 21 stand einst die jüdische Synagoge von Kaifeng. Bis eine Überschwemmung sie zerstörte. Übriggeblieben ist ein alter jüdischer Stern, der jetzt Cuis Hausaltars schmückt. „Seit dem Sturz des Kaiserreichs hat sich in unserem Stadtbezirk wenig verändert“, berichtet sie und nimmt vorsichtig eine in Hongkong verfaßte jüdische Enzyklopädie aus der Altarschublade. Darin zeigt sie auf das Foto eines Steindenkmals: „Auf dem Stein ist die Geschichte der Juden eingehauen. Er ist sehr alt und gehört unserer Familie. Leider läßt sich das jüdische Erbe in Kaifeng nicht mehr erhalten. Ich bin hier die letzte, die es pflegt.“

Die einmalige Odyssee der Juden von Kaifeng, deren kleine Gemeinschaft in fremder Umgebung die Jahrhunderte überlebte, ist in den letzten Jahren aufgrund der verbesserten Beziehungen zwischen China und Israel gut dokumentiert worden. Die letzte überlebende Jüdin der alten Hauptstadt aber symbolisiert bis heute ein China, wie wir es nicht mehr kennen: in sich ruhend und souverän, offen und großzügig, voller Stolz auf seine Herkunft und zugleich hoffnungslos rückständig.

Cui Shuping paßt gut in ihre Heimat. Kaifeng ist immer noch eine ruhige Fahrradstadt – im Gegensatz etwa zu Peking oder Shanghai. In der Hauptstadt von sieben verschiedenen Dynastien gibt es bis heute keine Hochhäuser. Statt dessen leben in der gut erhaltenen Altstadt die verschiedenen Religionen wie zu Kaisers Zeiten nebeneinander. Christen und Muslime bewohnen jeweils eigene Viertel. Als sie einst mit den Juden hierherzogen, war Kaifeng Welthauptstadt. Buchdruck und Schießpulver stammen von hier.

Nie war China so liberal wie unter der Herrschaft der Song-Kaiser in Kaifeng vor einem Millennium. Es gab damals öffentliche politische Debatten, die westliche China-Forscher heute als ersten Links- Rechts-Konflikt der Geschichte bezeichnen. Zwar wissen das die Einwohner von Kaifeng nicht mehr. Aber ihr kaiserliches Selbstbewußtsein hat überlebt. Das gibt den Leuten ihren Charme und läßt sie übersehen, in welch tiefer Provinz sie leben.

Die Provinz Henan ist ein Land voller Apfelbäume. Die Obstplantagen, die sich auf der Ebene des Gelben Flusses zwischen Kaifeng im Osten und Luoyang im Westen ausbreiten, sind ein Ergebnis der Reformen, die vor 20 Jahren den Bauern das Recht gaben, ihr Land selbst zu bestellen. Doch außer Äpfeln, die es früher nicht gab, kommt wenig Neues aus Henan. 91 Millionen Menschen leben in der Provinz am Gelben Fluß, 80 Prozent davon in ärmsten Verhältnissen auf dem Land.

In den Dörfern nördlich von Kaifeng verdienen die Bauern statistisch umgerechnet 250 Mark im Jahr. Das ist selbst für China wenig. Schon das Schulgeld beträgt 50 Mark pro Semester. Fleisch gibt es für die Landbevölkerung meist nur an Feiertagen. Die normale Mahlzeit besteht aus frisch gedämpften Weizenteig (Manto) und etwas Gemüse. Sogar Reis, der in Südchina angebaut wird, ist außergewöhnlich. Viele sind so arm, daß sie in ihrem Lehmhütten mit Ratten und Schmeißfliegen zusammenleben. Nicht jeder hat Strom und fließendes Wasser.

Bei genauerm Hinsehen lassen sich die unterschiedliche Grade der Armut feststellen. Im Flecken Heshang am Gelben Fluß leben die wohlhabenderen Bauern in selbstgemauerten Zweizimmerhäuschen aus roten Ziegeln mit betonierten Fußboden und Wellblechdach. Das Schmuckstück des Hauses ist meist ein alter Bauernschrank, auf dem entweder eine Uhr oder ein Radio zur Schau stehen. Darüber prangt oft ein Mao- Plakat der KP. Fernseher gibt es im Dorf nur wenige. Sie sind das Statussymbol der Bessergestellten, über das bislang nur jede fünfte Haushalt in Henan verfügt.

Der Dorfälteste Yang Shuchun, ein schmächtiger Greis von 76 Jahren, zählt in Heshang zu den Ärmsten. Sein Reich besteht aus einer winzigen lehmverschmierten Rundbalkenhütte. Hierher trägt er täglich Reisig von den Feldern, damit seine Frau die Feuerstelle unterhalten kann. Yang ist ein alter Kommunist der echten Sorte. „Es nützt nichts, wenn man hofft, daß sich für uns etwas ändert. Denn es ändert sich nichts“, resümiert er 50 Jahre Bauernrepublik. Er schimpft auf die Limousinen, die alle Woche vor dem Haus des Dorfbürgermeisters und Parteisekretärs halt machen. Man solle diese Leute, die von den Bauern das Geld für ihre Feste einsammeln, aus dem Wagen holen und erschießen. Zwar müßte in ihrem Dorf niemand mehr hungern wie vor der Befreiung und während der Zeit der Kommunen unter Mao. „Aber mit dem Wohlstand ist auch die Unzufriedenheit größer geworden. Jeder sieht, wie einige auf ungerechtem Weg reich werden, während die anderen arm bleiben“.

Wie die Jüdin Cui gehört der Kommunist Yang zu einer aussterbenen Art in Henan. Yang lebt noch das alte, ausgewogenen Leben eines eigentlich nicht unglücklichen Bauern: „Wenn es hell wird, stehe ich auf, und wenn es dunkel wird, gehe ich ins Bett“, beschreibt er seinen Alltag unter dem schmunzelnden Blick seiner Frau.

Doch so kann es nicht weitergehen. Schon sind die jüngeren Bauern von Heshang zu dieser Jahreszeit in die Stadt gezogen, um mit Gelegenheitsjobs auf Baustellen das Einkommen der Familie aufzubessern. „Seit die Reformen Deng Xiaopings in den 80er Jahren Verbesserungen für die Bauern brachten, gibt es in unserem Dorf keinen Fortschritt mehr. Er findet anderswo in den großen Städten statt“, bemerkt die 29jährige Bäuerin Zhang San.

Hinter den Hütten von Heshang, die sich unter Pappeln verstecken, liegt der Deich. Er gibt den Blick auf eines der fruchtbarsten, seit Jahrtausenden bewirtschafteten Anbaugebiete Chinas frei. In der Ferne schlängelt sich der Gelbe Fluß durch die graue Winterlandschaft. Doch der friedliche Anblick täuscht. Im Laufe von 2.000 Jahren verzeichnen die Annalen mehr als 1.500 Dammbrüche am Unterlauf des Gelben Flusses. Die Chinesen pflegen den Strom deshalb ihren „Großen Kummer“ zu nennen. Erst Mao machte Schluß mit der Hochwasserplage. „Die Sache des Gelben Flusses gut machen“ ließ er mit Datum vom 13. Oktober 1953 stromaufwärts von Heshang in eine Granittafel ritzen. Der berühmte Dammbau von Henan verschaffte den Kommunisten in den 50er Jahren das Vertrauen der Bauern. Seither stehen ihre Hütten das ganze Jahr im Trockenen.

Doch nun ist neue Gefahr im Verzug. Der Gelbe Fluß, Chinas zweitgrößter Wasserweg, droht auszutrocknen. Im letzten Jahr erreichte der Strom an 226 Tagen nicht mehr das Meer. Der Wassermangel hat zwei Gründe. Im Norden der Volksrepublik werden seit 30 Jahren nachlassende Regenfälle gemessen. Die Niederschlagsmenge sinkt derzeit um jährlich 20 Prozent – zum Teil ausgelöst durch Waldrodungen. Doch die größte Schuld am Versiegen des Stroms tragen die Bauern. Über 100 große Bewässerungsprojekte sind seit 1950 am Flußlauf entstanden. Trinkwasserversorgung und Bewässerung kosten den Gelben Fluß heute die Hälfte seiner jährlichen Wassermenge. Die Wasserknappheit aber bedroht nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch die Industrieproduktion zahlreicher Städte im riesigen Einzugsgebiet des Gelben Flusses.

Für die Bauern der Gegend ist das nicht der einzige Kummer. Nur ihre Häuser stehen hinter dem Steinwall in Sicherheit. Ihre Felder am Fluß sind durch den Deich nicht geschützt und müssen auch heute noch abgeerntet werden, bevor im Sommer das Hochwasser kommt. Das gilt auch für Zhang San und ihre Wassermelonenfeld.

„Letztes Jahr war alles futsch“, berichtet die Bäuerin. Mit Fahrrad, Forke und Verpflegung setzt sie jeden Morgen über den Deich. Wenn die junge, lebhafte Frau dann ihren neunjährigen Sohn in der Schule aufgehoben weiß und mit flatterndem Haar die Böschung hinunterrollt, vor ihr nur das unendliche Flußtal, läßt sie sich schon einmal hinreißen: „Ich möchte mit niemandem tauschen!“, ruft sie fröhlich.

Irgendwie wird das Leben in Henan weitergehen. Auch ohne Juden und Kommunisten. Doch die langsamen, unspektakulären Veränderungen in der Provinz, die seit Jahrtausenden die Mitte im Reich der Mitte bildet, sind nicht ohne Folgen. Jede wirklich große Herrschaftsperiode Chinas hinterließ hier tiefe Spuren. Um so deutlicher wird an Ort und Stelle, daß die Kaiser samt Mao noch keine ebenbürtigen Nachfolger haben.