„Es geht euch sehr viel besser, als ihr glaubt“

■ Danijl Dondurej, Soziologe und Chefredakteur der Zeitschrift „Iskusstwo Kino“ (Kino-Kunst) will mit der Veröffentlichung von guten Nachrichten dem russischen Volk die Katastrophensucht austreiben

taz: Die Tageszeitung „Komsomolskaja Prawda“ hat neulich im Internet für Sie extra eine Website eingerichtet. Kein Fernsehkanal, der Sie in letzter Zeit nicht einlud. Den Herbst über haben sie sieben Radiointerviews gegeben. Womit haben Sie soviel Staub aufgewirbelt?

Danijl Dondurej: Ich habe in zwei großen Artikeln in der „Iswestija“ und einem Interview in der „Komsomolskaja Prawda“ den Leuten und den Medien das Schlimmste gesagt, was man zu ihnen überhaupt sagen kann. Etwas, das sie auf keinen Fall hören wollen. Den Bürgern habe ich gesagt: Es geht euch sehr viel besser, als Ihr glaubt. Und zu den Fernsehchefs habe ich gesagt: Ihr seid schlimmer als die Parteiideologen Stalins. Die haben versucht, unserem Volk seine Realität in rosa Farben auszumalen. Jetzt aber wird uns als Nation ein masochistisch-süßlich-selbstmörderisches Selbstbild geboten. Das Leben außerhalb unserer Medien wird von ihnen einer scharfen und gefährlichen Zensur unterworfen. Sie bewirkt, daß das ganze Land in der gespannten Erwartung diverser Katastrophen verharrt. Und vor allem unsere Intelligenzija suhlt sich gern in negativen Emotionen.

Ist das nicht übertrieben?

Mitte Juli habe ich mit einem Freund an einem Abend in den Hauptnachrichtensendungen auf den vier meistgesehenen Fernsehkanälen gezählt, was für eine Aussage die einzelnen Spots hatten: positiv – zum Beispiel: unsere Leute sind noch nicht alle verhungert; neutral oder für unser Volk uninteressant – Jelzin hat mit dem deutschen Kanzler telefoniert; und negativ – aber die Bergleute hungern doch. Dabei sind wir auf 39 Beiträge mit einer negativen, 7 mit einer neutralen und 5 mit einer positiven Botschaft gekommen. Unser Fernsehen schafft es sogar, aus einer neutralen Nachricht eine negative zu machen. Damals streikten die Fluglotsen. Und was wurde gezeigt? Ein wartender Junge, der fragte: „Mami, fliegen denn die Flugzeuge nie mehr?“ Dabei kullerte ihm eine dicke Träne über die Wange.

Und woher sollen die guten Nachrichten kommen?

Überallher. Wenn das Leben nur noch aus lauter Unglück bestünde, würden die Leute nicht heiraten. Während das Fernsehen zeigt, daß ein Treppenhaus eines Wohnhauses eingestürzt ist, werden in unserem Land Millionen von Quadratmetern neuen Wohnraumes fertiggestellt.

Wer hat denn ein Interesse an dieser negativen Berichterstattung?

Alle, die an schnellen und effektiven Reformen kein Interesse haben. Und ich glaube, daß das bei uns überaus mächtige Kräfte sind. Nicht nur die Kommunisten, sondern auch all die Kapitalisten, die sich auf hochstaplerische Weise bereichern. Mangelhafte Reformen schwächen den Staat. Und ein schwacher Staat ist ein Staat, mit dem sich die Kumpel der Herrschenden zum eigenen Vorteil einigen können.

Was könnten gute Nachrichten bewirken?

Unserer Nation fehlt die Geschlossenheit in dieser so schwierigen Zeit. Es fehlt dieses Phänomen, das Sie in Ungarn und Polen antreffen, wo die Leute sagen: „Wir beißen jetzt einfach mal die Zähne zusammen.“ Unser Leben ist ja heute ein täglicher Kampf. Können Sie sich vorstellen, daß man am Vorabend einer großen Schlacht den Generälen und Soldaten ausrichten läßt „Macht Euch auf eine Niederlage gefaßt! Ihr macht sowieso alles falsch!“? Man hätte von vornherein die Konsequenzen der Privatisierung offen diskutieren müssen, die mögliche Arbeitslosigkeit, was marktwirtschaftliche Konkurrenz für den einzelnen bedeutet. Aber auch heute wird über die wirklichen Fragen, die sich unserem Volk stellen, überhaupt nicht diskutiert.

Können Sie Beispiele nennen?

Warum zwingt man unsere potentiellen Präsidentschaftskandidaten nicht, anstelle unzusammenhängender politischer Äußerungen ihre Programme vorzutragen und mit Experten zu diskutieren? Nehmen wir Moskaus Bürgermeister Juri Luschkow. Er sagt, daß der Westen uns vernichten will und daß wir das Eigentum an Produktionsmitteln noch einmal neu verteilen müssen. Was bedeutet das für die Innen- und Außenpolitik? Will er einen Bürgerkrieg? Eine der großen guten Nachrichten der letzten Jahre war ja, daß dieses Eigentum ohne Blutvergießen umverteilt wurde. Die vorletzte Umwälzung unseres Gesellschaftssystems, nach der Oktoberrevolution, kostete elf Millionen Menschenleben.

Was wollen Sie tun?

Ich schreibe weiter an Texten, die Staub aufwirbeln sollen. Inzwischen haben sich schon ein paar Leute an mich gewandt, die genauso denken wie ich. Wir überlegen noch, was wir über das Schreiben hinaus unternehmen können, um unser Volk von seiner Katastrophensucht abzubringen.